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  • Das Artikulierte und das Inartikulierte. Eine Archäologie strukturalistischen Denkens by Markus Wilczek
  • Gesa Frömming
Markus Wilczek. Das Artikulierte und das Inartikulierte. Eine Archäologie strukturalistischen Denkens. spectrum Literaturwissenschaft, vol. 31. Berlin, Boston: de Gruyter, 2012. 253 pp. € 99.95 (Hardcover). ISBN 978-3-11029-116-2.

Seit einigen Jahren scheint „Artikulation“ einmal mehr zu einem kulturwissenschaftlichen Grundbegriff zu avancieren. Erlangte der Terminus in den englischsprachigen cultural studies u.a. durch die Arbeiten von Laclau, Mouffe, Hall und Butler bereits in den 1980er und 90er Jahren eine gewisse Prominenz, lässt sich jetzt seine auffällige Präsenz in der deutschsprachigen Philosophie, Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft beobachten. Sie geht einher mit Versuchen, Artikulation als Grundbegriff einer transdisziplinären Kulturwissenschaft zu etablieren, die sich eher analytisch-deskriptiv als kritisch-transformativ positioniert (vgl. Anthropologie der Artikulation, ed. Schlette/Jung, 2005; Formen der Artikulation, ed. Niklas/Roussel, 2013). Bei aller Heterogenität der Methoden und Referenztexte der aktuellen terminologischen Debatte ließe sich als ein gemeinsamer Nenner das Interesse daran bestimmen, den Gehalt der einflussreichsten theoretisch-philosophischen Diskurse des 20. Jahrhunderts für [End Page 337] eine Kulturwissenschaft fruchtbar zu machen, die nicht nur den Brückenschlag zwischen diversen Theorietraditionen, sondern auch einen Dialog zu Grundfragen der Ethik auf Augenhöhe mit den Naturwissenschaften sucht. Wilczeks Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Bestandsaufnahme in diesem Sinne, nimmt in der aktuellen Diskussion jedoch eine Sonderstellung ein, insofern sie eine meta-theoretische Fragestellung verfolgt. Die theorie- und literaturgeschichtlich angelegte Untersuchung bereichert die gegenwärtige Neuverhandlung des Begriffs insbesondere durch ihre Überlegungen zu den ethischen Implikationen des Inartikulierten. Wilczeks Arbeit verfolgt zwei ineinander verschränkte Problemstellungen. Zunächst geht es um die historisch-archäologische Relativierung der „zentralen Denkfigur des Strukturalismus“ (141): der „Analogie zwischen sprachlichem und gesellschaftlichem Ordnungssystem“ (1), die durch das Postulat der Artikuliertheit beider Systeme ermöglicht werde. Rekonstruiert werden sollen also die „semantischen Voraussetzungen“ dafür, „dass die Vorstellung der Artikulation modellbildend für die Darstellung und Analyse anderer Ordnungssysteme als der Sprache werden konnte“ (2). Die wichtigste dieser Voraussetzungen, so die erste These, ist eine Neuordnung der Beziehung des Artikulierten zum Inartikulierten um 1800. In überaus anregenden close readings literarischer, philosophischer und kulturtheoretischer Texte u.a. von Lessing, Rousseau, Condillac, Monboddo, Herder, Rousseau, Kant, Hegel und Humboldt entwickelt Wilczek das Argument, in der Sattelzeit komme es zu einer allmählichen ‚Eingemeindung‘ (91, 165, 197 u.ö.) des Inartikulierten in das Paradigma der Artikulation. Dabei werde der Artikulationsbegriff de-naturalisiert, systematisiert und schließlich so zum „universalen Ordnungsprinzip menschlicher Erfahrung“ (87) erweitert, dass das Inartikulierte schließlich auf der gleichen systematischen Ebene wie das Artikulierte angesiedelt, diesem aber zugleich untergeordnet werde (91 u.ö.). Auf diese Weise ließen sich mittels des Artikulationsparadigmas „differentielle Ordnungsverhältnisse“ (113) abbilden – Grundvoraussetzung für die „rein differentiell verfahrende Analyse“ des klassischen Strukturalismus, die dann „gleichsam kein ‚Außen‘ der ‚Artikulation‘“ (141) mehr kenne. Aufgebrochen werde das Paradigma u.a. durch Derridas Inszenierung eines supplementären Verhältnisses von Artikuliertem und Inartikuliertem und Butlers performative Wendung des Artikulationsbegriffs.

Die Brisanz dieser auf den ersten Blick recht abstrakt anmutenden Fragestellung und ihr Interesse auch für einen größeren Leserkreis erschließt sich insbesondere durch deren argumentative Verschränkung mit einer zweiten: Welche Auswirkungen hat die v.a. in Kapitel 2 und 3 dargestellte Eingemeindung und Formalisierung des Inartikulierten für den „ethischen Imperativ“ (7, 37, 115 u.ö.), der bis hin zu Lessing dem inartikulierten als (vermeintlich) natürlichen Ausdruck zugeschrieben wird? Der ethische Gehalt des Inartikulierten ist Gegenstand des 1. und 4. Kapitels, die sich mit der Ethik, Semiotik und Rhetorik des Schreis in Texten von Sophokles, Lessing, Heiner Müller und Nietzsche befassen. Wilczeks zweite These lautet, dass die formalisierende Eingemeindung des Inartikulierten bzw. die Systematisierung des Artikulationsbegriffs zur Subvertierung des [End Page 338] wirkmächtigen „Phantasmas“ der authentisch-natürlichen Unmittelbarkeit des Schreis (13, 37, 124, 140 u.ö.) und schließlich zur „Entkopplung des inartikulierten Ausdrucks von der ihm vormals zugeschriebenen ethischen Funktion“ (141, vgl. auch 224) geführt habe. So erweist Wilczeks Nietzsche-Lektüre die Denkfigur der Eingemeindung auch für Also sprach Zarathustra als strukturbildend, einen Text, in dem durch die Überführung der Wahrnehmung des Schreis in ein formalisierendes...

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