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  • Abkehr vom Stereotyp: Polenbilder in der deutschen Gegenwartsliteratur. Plädoyer für einen narratologischen Ansatz
  • Carsten Gansel (bio)

In seinem Roman Menschenflug (2005) gerät Hans-Ulrich Treichels Protagonist – er arbeitet bezeichnenderweise als akademischer Rat im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität Berlin – in eine Art Lebenskrise. Stephan ist nunmehr über Fünfzig und hat “beinahe das Alter erreicht, [...] in dem sein Vater gestorben war” (8). Wiederholt fühlt er Schmerzen in der Herzgegend und wird von Angstträumen heimgesucht. Diese Irritation führt dazu, dass sich seiner immer öfter eine “Sehnsucht nach alten Papieren” bemächtigt und das “Verlangen nach alten Truhen, vergilbten Briefen und Fotoalben” (8–9). Doch seine Eltern haben ihm nichts davon hinterlassen. Lediglich ein Antrag auf Lastenausgleich und ein handgeschriebener Lebenslauf des Vaters sind als Zeugnisse geblieben. Dieser Umstand steigert nur noch das Bemühen des Protagonisten etwas über jene Heimat zu erfahren, die die Eltern auf der Flucht 1945 verlassen mussten. Für Stephan wachsen die unbekannten Orte in einem metaphorischen Begriff zusammen, dem Osten. Und von diesem Osten weiß er nichts. Der heterodiegetische Erzähler (Genette; Martinez/Scheffel) markiert diese Unkenntnis des Protagonisten über eine interne Fokalisierung so:

Der Osten und alles, was damit zusammenhing, waren ihm als Kinder und Jugendlichem vollkommen unverständlich geblieben, den topographischen und historischen Wirrwarr, als der sich die Gespräche der Erwachsenen über Schlesien, Ostpreußen und Pommern, über Breslau, Königsberg und Lodz, über Masuren und Siebenbürgen, über Aussiedlungen und Umsiedlungen, Fluchten und Vertreibungen, vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg sowie, vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg für ihn darstellten, hätte er nie entwirren können [...].

(51–52)

Treichels Protagonist ist – wie der Autor selbst – über Fünfzig und weiß nichts über den sogenannten Osten. Es ist anzunehmen, dass das Wissen von Autoren, die ab Mitte der 1960er Jahre geboren wurden, noch dürftiger ausfällt. Wenn dies aber so sein sollte, welche Bilder vom Osten werden dann wohl in ihren literarischen Texten entworfen und über welche Erfahrungen verfügen die Figuren mit dem sogenannten Osten? Liefern sie – wenn denn der Osten zum Ort der literarischen [End Page 255] Darstellung wird – klischeehafte Darstellungen und verfestigen Stereotype, von denen in der Imagologie vor allem mit Blick auf Polen-Bilder in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder die Rede ist (Dyserink; Fischer; Orłowski, “Stereotype der ‘langen Dauer’” und Die Lesbarkeit von Stereotypen; Stüben; Zimmermann)?

Derartigen Fragen wird der vorliegende Beitrag nachgehen. Dazu wird in einem ersten Teil das Hervortreten einer neuen Autorengeneration ab Mitte der 1990er Jahre skizziert. Sodann wird zweitens gezeigt, inwieweit auch für die junge Autorengeneration das “Prinzip Erinnerung” und der Aspekt von postmemory eine zentrale Rolle spielen. Auf dieser Grundlage wird dann im dritten Teil danach gefragt, inwieweit sich beim Entwurf von Polen-Räumen stereotype Darstellungen ergeben oder auch nicht. Dabei wird explizit dafür plädiert, stärker als bisher narratologische Überlegungen zu berücksichtigen.

Ab Ende der 1990er Jahre haben Teile der Literaturkritik eine neue Erzählergeneration ausgemacht, die “literarische Theorien und Dogmen” missachten und “so saftig, unterhaltsam und unbekümmert” erzählen würde, “wie einst der junge Grass.” Gefeiert wurde die “neue Lust am Erzählen” und das “vitale Interesse am Erzählen, an guten Geschichten und wacher Weltwahrnehmung” herausgestellt (Hage), ja überhaupt eine “Rückkehr des Epischen” diagnostiziert (Hielscher). In den Blick gerieten Texte so unterschiedlicher Autoren wie Christian Kracht (Faserland, 1995); Alexa Hennig von Lange (Relax, 1997); Benjamin von Stuckrad-Barre (Livealbum, 1998; Soloalbum, 1999); Benjamin Lebert (Crazy, 1999), Tanja Dückers (Spielzone, 1998); Thomas Brussig (Helden wie wir, 1996; Am kürzeren Ende der Sonnenallee, 1999); Judith Hermann (Sommerhaus, später, 1998); Daniel Kehlmann (Mahlers Zeit, 1999); Thorsten Krämer (Neue Musik aus Japan, 1999), Tobias Hülswitt (Saga, 1999). Eine Reihe der jungen Autoren wurde schon wenig später mit dem Label der “Pop-Literaten” oder der “Popliteratur” gefasst, einem Terminus, der dann auch innerhalb der Literaturwissenschaft gebraucht wurde (Arnold/Schäfer; Baßler; Gansel, “‘Erzähl mir was’” 234–57).

Die mit dem neuen Jahrtausend einsetzende Wertschätzung von jungen deutschen Autoren signalisierte Veränderungen im Handlungs- und...

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