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  • Wendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre
  • Walter Pape
Wendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre. Von Mirjam Gebauer. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2006. 271 Seiten. €27,50.

Es gibt viele Phantome in der Germanistik, vor allem bei den Gattungsbegriffen und -zuschreibungen. Sie bewegen sich durch die Jahrhunderte wie Grimmelshausens Baldanders und sind "in Summa bald so und bald anders." Da wäre zum Beispiel das Phantomproblem 'Novelle,' dem Novellentheoretiker dankbar nachjagen. Oder der deutsche Bildungsroman, bei dem, wie Georg Stanitzek anmerkt, "die Einheit der Gattung in der Kommunikation über sie zu suchen" ist ("Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur: Zur Frühgeschichte des deutschen 'Bildungsromans,'" DVjS 62, 1988, 416–450: 418). Jeffrey L. Sammons hat deshalb auch wohl zu Recht in seiner Studie "The Mystery of the Missing Bildungsroman" (Genre 14, 1981, 229–246: 243) vom Phantom des Bildungsromans gesprochen. Alle Nachfolger des Wilhelm Meister sind irgendwie Stiefenkel, da sie entweder "die völlige Unmöglichkeit" zeigen, nach Goethe "noch die Ziele Goethes zu erreichen," (Hartmut Steinecke, Wilhelm Meister und die Folgen, in: Wittkowski, Goethe im Kontext, 1984. 89–118; 91) oder da, was aufs Gleiche herauskommt, der Bildungsroman nur noch als Parodie möglich ist, wie der bei allem Ironiepotential seiner Werke doch bildungsgläubige Thomas Mann feststellt ([Der autobiographische Roman], Gesammelte Werke Bd. 11, 700–703: 703).

Vergleichbar ist das Phantom des Pikaro-Romans, dessen Erbe der Bildungsroman angetreten haben soll; ob es ihn wirklich außerhalb der bis ins 18. Jahrhundert reichenden unmittelbaren Traditionslinie gibt, ist umstritten. Der Begriff des Pikaro- oder Schelmenromans wird oft so erweitert, dass er keinen heuristischen Wert mehr hat. Sicher kann man Thomas Manns Felix Krull oder Günter Grass' Blechtrommel in dieser Tradition sehen. Grass selbst hat in seiner Nobelpreisrede diese und andere Traditionen der Weltliteratur etwas forsch für sich reklamiert: "Ich komme, wie Sie lesend erfahren haben, aus der maurisch-spanischen Schule des pikaresken Romans. In ihr ist der Kampf gegen Windmühlenflügel ein durch die Jahrhunderte hindurch übertragbares Modell geblieben." Auch so unterschiedliche Texte wie Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis (1953), Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns (1963), Gerold Späths Unschlecht [End Page 165] (1970), Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974) sowie Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) sind vom Feuilleton oder der Germanistik dem Schelmenroman zugeordnet worden.

Mirjam Gebauer behandelt neben Brussigs Geschichte des Klaus Uhltzscht noch drei weitere pikareske 'Wenderomane': Jens Sparschuhs Zimmerspringbrunnen (1995), Günter Grass' Ein weites Feld (1995) und Fritz Rudolf Fries' Die Nonnen von Bratislava (1994). Auf den ersten 40 Seiten erfolgt ein selektiver Forschungsbericht zum Pikaroroman, der unvermittelt auch Bachtins Lachkultur integriert, die der Gattungsdiskussion des Pikaroromans Impulse gegeben habe (30). Ist schon solche Verbindung problematisch, so verflüchtigen sich die "theoretischen und methodischen Überlegungen" in der Analyse zu wenigen Gemeinsamkeiten: die exzentrische Perspektive, verfremdete Helden, das Immergleiche der Geschichte, der Diener wechselnder Herren und die Delinquentenhaftigkeit (eines der vielen unschönen Komposita). In der Zusammenfassung zum Zimmerspringbrunnen (dem nur 17 von 259 Analyseseiten gewidmet sind) heißt es, sein Held, der Zimmerspringbrunnenverkäufer Lobek, trage "zwar pikareske Züge," doch vom Pikaro trenne ihn "eine weniger ausgeprägte Gestaltung delinquentenhaften Verhaltens" (123). Von Grassens Fonty, den vor ihr noch niemand als Pikaro gelesen hat (nur das germanistisch gebildete Feuilleton fühlte sich bemüßigt den Begriff 'Schemenroman' fallen zu lassen), heißt es mehrmals (190, 258), er entferne sich von einer pikaresken Figur—muss er auch, da das Element der fiktiven Autobiographie völlig fehlt und seine 'Identität' multiperspektivisch von anderen konstruiert wird. Bisweilen werden denn auch allgemeinste Feststellungen mit der Pikaro-Figur kurzgeschlossen: "Mit der Staatssicherheitsproblematik ist zugleich auch die für die Pikaro-Figur geltende moralisch spannungsreiche Anlage der Figur Theo Wuttke angedeutet" (124). Von "pikaresken Anpassungsstrategien" ist die Rede (ebd.), die Etikettierung von Fontane und Fonty als "verkrachte Existenz" durch die Leute vom Archiv im Weiten Feld wird als pikaresk gelesen und ebenso das närrische Double als weiser Narr gesehen und damit dem Simplicissimushaften scheinbar angenähert (147ff.). All das ist vage, eben phantomhaft.

Bei Thomas Brussig...

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