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  • Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften: Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • Gerhard P. Knapp
Udo Roth . Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften: Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Büchner-Studien 9. Tübingen: Niemeyer, 2004. 545 S. € 78. ISBN 3-484-19109-0.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften – die französische Dissertation Mémoire sur le système nerveux du barbeau und die Probevorlesung Über Schädelnerven – sind lange das Stiefkind der Forschung geblieben: über eine generelle wissenschafts-geschichtliche Einordnung der Schriften in die größeren Diskurse der Zeit gelangte man selten hinaus. Erst in den letzten anderthalb Jahrzehnten setzte die Aufarbeitung der wissenschaftlichen bzw. naturphilosophischen Positionen des Autors verstärkt ein. Das primäre Erkenntnisinteresse der meisten einschlägigen Arbeiten galt dabei der engen Gemeinschaft von Naturwissenschaft und Dichtung, die bei Büchner auf der Hand liegt. Weniger beachtet wurde die ebenso untrennbare Verbindung dieser beiden Bereiche mit dem philosophischen Denken des Autors, das wiederum seinen epistemologischen Zugang zur Natur und allen ihren Erscheinungen fundiert.

Die Studie von Udo Roth (zugl. Diss. Marburg, 1999) beschreitet einen grundsätzlich neuen Weg der Annäherung. Ihr Ziel ist es, "die organologischen Anschauungen des Naturwissenschaftlers Büchner zu klären und auf dieser Basis seine naturwissenschaftlichen Schriften wissenschaftshistoriographisch einzuordnen" (12). Teil 1 bringt einen kurzen Überblick des Forschungsstands. In dem folgenden weit ausgreifenden Dreischritt werden zunächst der wissenschaftliche Werdegang [End Page 373] Büchners und der Entstehungszusammenhang seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten nachgezeichnet (Teil 2), dann seine Kritik der herrschenden zeitgenössischen wissenschaftlichen Schulen – insbesondere der von Georges Cuvier in der Anatomie und François Magendie in der Physiologie vertretenen teleologischen Ausrichtung – im Kontext der Wissenschaftsdebatte der Zeit situiert (Teil 3) und schließlich die naturphilosophische Schule sowohl in ihrer Entwicklung und in ihren Leistungen als auch mit Blickrichtung auf Büchners eigene Orientierung eingehend untersucht (Teile 4 und 5). Hier wird viel Neuland abgesteckt. So gelangt Teil 2, der die Sitzungsprotokolle der Société du Muséum d'Histoire naturelle de Strasbourg über den mündlichen Vortrag von Büchners Mémoire heranzieht, erstmals zu einer fast lückenlosen Darstellung der Genese der Dissertation und zu einer plausiblen Rekonstruktion der bis dato unklaren Geschichte ihrer Drucklegung. Man wird jetzt davon ausgehen können, dass Büchner um "den 25. Juli" 1836 Umbruchexemplare des Mémoire besaß, die er dann in Zürich vorschriftsgemäß einreichte.

In Teil 3 werden die philosophischen Ursprünge eines kausal-mechanistischen bzw. teleologischen Weltbilds bei Descartes, d'Holbach, La Mettrie und den Enzyklopädisten bis hin zu Kants "Postulat der Teleologie als rein regulativem Prinzip der Vernunft" (200) als wissenschaftstheoretische Voraussetzungen bestimmter Zweige der Biowissenschaften der Zeit dargelegt. Roth stellt hier dezidiert die Verbindung zu Büchners philosophischen Studien her, die parallel mit seiner naturwissenschaftlichen Arbeit einhergingen. Bemerkenswert ist auch der direkte Nachweis von Carl Gustav Carus und Johannes Müller als Quellen von Büchners Kritik an der teleologischen Methode in Über Schädelnerven. Die in den Teilen 4 und 5 gegebene Gegenüberstellung der Positionen Büchners mit denen der diversen Vertreter der "philosophischen" Schule der Naturwissenschaft der Zeit rückt Büchner ebenfalls deutlich in die Nähe von Carus, auf dessen "genetische" Methode er sich eingangs im Mémoire bezieht, wenn auch ohne namentliche Nennung, sondern nur unter dem generischen Verweis auf die "école allemande." Die Teile 6 und 7 – weniger klar strukturiert als die vorangehenden – gelten dann der Differenzierung von Büchners eigenem wissenschaftlichen Standort, der ihn von den spekulativen Tendenzen der "philosophischen Methode" bzw. der "Anschauung des Mystikers" ebenso dezidiert abgrenzt wie vom "Dogmatismus des Vernunftphilosophen." Ob man ihn freilich ganz so zwanglos in die romantische "Verständnistradition" (389) einordnen kann, wäre noch weiter zu diskutieren, auch wenn man bewusst einmal die mythisierenden und spiritistischen Strömungen innerhalb der Romantik ausklammert. Gerade hier hätte man sich eine straffere Argumentation und damit eine noch konkretere Situierung der Büchnerschen Positionen im wissenschaftlichen Diskursnetz der Zeit gewünscht.

Teil 8 des umfangreichen Bandes bringt eine Reihe von Texten und Kommentaren, darunter das kommentierte Sitzungsprotokoll der Société vom 4. Mai 1836...

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