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  • B. Traven—Die unbekannten Jahre by Jan-Christoph Hauschild
  • Günter Dammann
B. Traven—Die unbekannten Jahre. Von Jan-Christoph Hauschild. Zürich: Voldemeer, 2012. 696 Seiten. €38,86.

Herbst für Herbst, Frühjahr für Frühjahr werden wir, so der aktuelle Trend, mit umfangreichen Biographien über Schriftsteller beschenkt, vorzugsweise solchen, deren Geburts- oder Todestag sich in der Wiederkehr gerade zu einem wirkungsvollen Jubiläum rundet. Jan-Christoph Hauschilds Buch über Traven nimmt sich in diesem Kontext, obschon eine Biographie und umfangreich, recht eigenartig aus: Es erzählt die Geschichte nur der ersten vierzig von den fast neunzig Lebensjahren seines Helden—und einen runden Geburts- oder Todestag gibt es auch nicht. B. Traven—Die unbekannten Jahre folgt einer anderen, einer eigenen Logik. Für die ist als Datum wesentlich das Jahr 1978, das Jahr der Erstsendung von Will Wyatts Fernsehdokumentation A Mystery Solved, bzw. 1980, als Wyatt seine Recherchen und ihre Ergebnisse unter dem Titel The Man Who Was B. Traven in Buchform vorlegte; die deutsche Übersetzung folgte abermals zwei Jahre später. Auch in Kreisen, die dem Autor des Totenschiffs eher fern standen, begann sich daraufhin allmählich herumzusprechen, dass es sich bei dem jahrelang von Sensationsreportern verfolgten Großen Unbekannten, von dem man mittlerweile immerhin schon wusste, er sei der allerdings erst seit 1907 nachgewiesene Schauspieler, Literat und Münchner Räterevolutionär Ret Marut gewesen, offenbar ‘ursprünglich’ und ‘eigentlich’ um den 1882 geborenen Schlosser Otto Feige aus Schwiebus (Provinz Brandenburg) handeln sollte.

Die Fachwelt allerdings, die Botschaft ihrerseits hörend, glaubte sie nicht. Dafür hatte sie durchaus Gründe. Wyatt nämlich brachte sich auf zweierlei Weise um seine Wirkung. Zum einen konnte der Autor, der 250 Seiten lang jede fremde Hypothese über Traven sorgfältig und skeptisch hin- und hergewendet hatte, sich auf den letzten fünfzig nicht zurückhalten, seine eigene These mit beliebigen und forcierten Argumenten zu verteidigen. Zum zweiten blieb das aus Personenstandsregistern und vagerührenden Erinnerungen der Geschwister gezeichnete Bild des ganz jungen Otto Feige derart mager, dass zwischen diesen allenfalls bis 1904 reichenden Befunden und dem 1907 einsetzenden Material über Marut/Traven ein nicht überbrückter und auch kaum überbrückbarer Hiatus klaffte. Karl S. Guthke hatte nicht nur leichtes Spiel, sondern nach dem damaligen Stand der Dinge durchaus recht, als er 1983 die Feige-These [End Page 144] prüfte und im Kern zurückwies. Das war und blieb mehr oder weniger in der Traven-Forschung die communis opinio, die jetzt durch die vorliegende Publikation vehement aufgekündigt wird.

Im Frühjahr 2008 hatte Hauschild—durchaus ein wenig ins Blaue hinein—diverse Archive des Ruhrgebiets nach dem Namen Otto Feige abgefragt und neben lauter negativen Bescheiden auch die Antwort erhalten, für einen Mann dieses Namens aus Schwiebus, Gewerkschaftssekretär, letzter Wohnort Magdeburg, sei einmal in Gelsenkirchen eine Meldekarte ausgestellt worden. Damit war, wie die Biographie nun zeigt, indem sie das letztlich sparsame Archivmaterial durch eine Rekonstruktion des Umfeldes aus subsidiären Quellen verlebendigt, endlich doch das missing link gefunden. Otto Feige wurde Mitte 1906 ohne die an sich obligatorische Ausschreibung zum Leiter der Geschäftsstelle des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) in Gelsenkirchen berufen. Hauschild ist gewiss zu Recht der Meinung, die Umstände dieser Bestallung deuteten darauf, dass der 24jährige in den wenigen vorausgehenden Jahren seiner beruflichen Tätigkeit als Schlosser bereits gewerkschaftlich von sich reden gemacht haben wird. Kaum hatte Feige die neue Stelle angetreten, gab es ‘Kunstabende’ und bald auch einen Theaterklub.

Obwohl ganz offensichtlich sogleich erfolgreich tätig, auch was die finanziellen Belange des Ortsvereins betraf, entschloss der Gewerkschaftssekretär sich schon ein Jahr später zur Kündigung. Die Ausschreibung für seinen Nachfolger organisierte er noch selbst; die Abmeldung aus Gelsenkirchen gab statt eines Zielorts nur mehr “Reisen” an. Als Gründe für den Aufbruch Feiges zu neuen Ufern vermutet Hauschild gleichermaßen politische Skrupel des nie in die SPD eingetretenen dissidenten Gewerkschafters und den Herzenswunsch, sich am Theater zu verwirklichen. Jedenfalls ist der Schauspieler Ret Marut seit dem Dezember 1907 dokumentiert. Was an Wyatts Darstellung störte, der Gestus beflissener Überredung ebenso wie der Hiatus zwischen den beiden Existenzen, kann hier nicht mehr kritisch in Anschlag...

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