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  • Geschichte(n)-Erzählen. Konstruktionen von Vergangenheit in literarischen Werken deutschsprachiger Autorinnen seit dem 18. Jahrhundert
Geschichte(n)-Erzählen. Konstruktionen von Vergangenheit in literarischen Werken deutschsprachiger Autorinnen seit dem 18. Jahrhundert. Herausgegeben von Marianne Henn, Irmela von der Lühe und Anita Runge. Göttingen: Wallstein, 2005. 303 Seiten + 5 Tabellen. €28,00.

Das Ziel des vorliegenden Bandes, der zum größten Teil aus einer von den Herausgeberinnen veranstalteten Tagung in Göttingen im Jahr 2002 hervorgegangen ist, ist im Untertitel präzise benannt: Erstmals werden hier ausschließlich von Frauen verfaßte historische Erzählwerke, zumeist Romane, seit dem 18. Jahrhundert untersucht und in ihrem breiten Spektrum von Themen, Stil und Bekanntheit vorgestellt. Der Band bietet wichtige Materialien und Anregungen für alle, die sich mit historischem Erzählen und/oder Schriftstellerinnen befassen.

Die Herausgeberinnen folgen, wie sie in der Einleitung darlegen, der Prämisse neuerer Geschlechterforschung, daß kulturelle Gedächtnisleistung nicht geschlechtsneutral arbeitet. Ihr Ziel war eine Systematisierung der "Formen eines kulturellen Gedächtnisses aus der Perspektive von Frauen" und damit "die Positionierung der Geschlechter im Erinnerungsdiskurs" (14). Ein solcher systematischer Überblick über die vielfältigen Formen, in denen Schriftstellerinnen seit dem 18. Jahrhundert Geschichte konstruiert und erzählt haben und die Funktionen, die Geschichte in diesen Werken außerdem erfüllt, wird in dem Band wenn nicht gegeben, so zumindest begonnen. In Tagungsbänden ist ein gewisser Zufallsfaktor in der Auswahl bei gleichzeitig uneinheitlichen Fragestellungen und Herangehensweisen fast unvermeidlich.

Die 15 Beiträge sind in drei Teile (Kapitel) gegliedert, die die Jahrhunderte rückwärts abdecken. Schwerpunkte bilden Benedikte Naubert und Ricarda Huch, denen jeweils mehrere Beiträge gelten. Eine knappe Übersicht kann die Beiträge nur nennen: Hans Richard Brittnacher erkennt in den frühen Romanen Ricarda Huchs, vor allem in den Erzählwerken über Garibaldi und Confalonieri (1906/07, 1910), neue Entwürfe männlicher Subjektivität, einen modernen 'empfindsamen' Charakter. Gesa Dane vergleicht Huchs Geschichtstheorie in den nicht-fiktionalen Texten und in ihrer Darstellung Der große Krieg in Deutschland (1912–14). Laut Sabine Döring nutzt Elisabeth Aman in ihrem 'kulturhistorischen Dorfroman' Das Vermächtnis (1951) den Stoff zur Enthistorisierung von Geschichte, indem sie die politische 'Realgeschichte' auslasse. Helmut Göbel postuliert für das historische Erzählen Gertrud Bäumers während der Zeit des Nationalsozialismus, daß sich die Autorin in den Themen der Vergangenheit mit der politischen Gegenwart auseinandersetzte und dabei die (mittelalterliche) Geschichte und die geschichtliche Rolle von Frauen mythisierte. Birte Werner analysiert Anna Gmeyners zeitgeschichtlichen Roman Manja (1938) als Beschreibung und utopische Überwindung der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus unter Verwendung moderner, teilweise filmischer Erzählformen und einer ursprünglichen Sprache. Joanna Jabłowska liest Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (1979) als historische Erzählung mit (DDR-spezifischen) autobiographischen Elementen, die Fakten und Mythos verbinde und historische 'Leerstellen' nutze, um sie auf Gegenwart und Zukunft zu beziehen. Anke Detken sieht in Irmtraud Morgners Trobadora Beatriz (1974) eine neue Gattung, den 'historischen Gegenwartsroman,' verwirklicht, in dem Mittelalter und DDR-Gegenwart sich gegenseitig verfremden und in dem die Autorin feministisch die Bedingungen weiblicher Autorschaft thematisiert und den Ausschluß weiblicher Autoren aus dem Kanon bekämpft. Carola Hilmes erinnert an Henriette von Paalzow, [End Page 112] die Verfasserin historischer (Familien-)Romane wie Godwi Castle (1836), in denen die Erfindung überwiegt, weil Paalzow die Veranschaulichung bürgerlicher Werte und ihre Verankerung in der Vergangenheit wichtiger waren als historische Wahrheit. Renate Stauf zeigt, wie Amely Bölte in ihrem 'historischem Individualroman' Frau von Staël (1859) einen Gegenentwurf zum traditionellen Bild Staëls entwerfe, nämlich als Genie, und ihr damit den traditionell männlich besetzten Platz zuweise. Romana Weiershausen untersucht die Gestaltung des Themas Frauenstudium in Erzählungen von Käthe Schirmacher (Die Libertad) und Lou Andreas-Salomé (Fenitschka, 1898) und zeigt, wie in ihnen allgemeine und individuelle Geschichte durch die Kategorie des 'persönlichen Erlebens' vermittelt werden. Alle Beiträge zu Benedikte Naubert (Catharina Oerke über die Egyptischen Märchen, Frauke Reitemeier in ihrem Vergleich von Naubert mit der englischen Schriftstellerin Sophia Lee, die Rezensentin über Weiblichkeitsmodelle in Barbara Blomberg) und weiteren Schriftstellerinnen um 1800 untersuchen die Gattungsgrenzen und Möglichkeiten dieses neuen Genres. Diana Spokiene weist die Ähnlichkeit der Darstellung von Geschlechterrollen in Friederike Helene Ungers Briefen über Berlin (1798) und in zeitgeschichtlichen Dokumentationen nach. Helmut Peitsch untersucht an Caroline de la Motte Fouqués Roman Die Magie der Natur (1812) die durchgehende und enge Verbindung von Familienroman und politischer Geschichte.

Frauen, so das Ergebnis, hatten einen wichtigen Anteil an historischen Erzählwerken mit experimentellen Strukturen, schrieben also in diesem Genre durchaus anspruchsvoll und innovativ, nicht nur epigonal oder gar trivial. Dazu gehört auch die häufige Überschreitung von Gattungsgrenzen. Die untersuchten Texte dokumentieren ein weitgespanntes, "verändertes Gattungs- und Geschichtsverständnis" (Rückseite). Diese Ergebnisse des Bandes hätten radikalisiert werden können, denn damit ist noch nicht gezeigt, daß es innerhalb dieser Vielfalt deutliche Gruppen, Tendenzen und Entwicklungen gibt und ob diese spezifisch für Autorinnen sind. Im Anhang gibt Marianne Henn einen chronologischen Überblick über die Standpunkte von Schriftstellerinnen zum Verhältnis von Fakten und Fiktion und wertet Daten zur Produktion historischen Erzählens durch Frauen (vor allem die Innsbrucker digitale Datenbank Projekt Historischer Roman) aus. Fünf Graphiken (299–303) veranschaulichen die statistische Verteilung folgender Ergebnisse: alle Autorinnen, die fünf und mehr historische Werke verfaßten (nämlich 23 mit Louise Mühlbach und Johanna Neumann als den produktivsten), die erstaunlich große Zahl von Autorinnen von vier oder weniger Werken (74 mit nur einem Werk), die Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts mit den meisten Publikationen (die 1890er, gefolgt von den 1830er und 1880er Jahren) sowie die am häufigsten dargestellten Zeiträume (das 18. Jahrhundert, gefolgt vom 17. und 16.), entsprechend die zahlenmäßige Verteilung von 1900 bis 1945 (die meisten in den 1930er Jahren, gefolgt von den 1920er Jahren), schließlich die behandelten Jahrhunderte in den Werken dieses Zeitraums (mit klarem Vorsprung des 19. Jahrhunderts vor dem 18.).

Von den Einzelthesen und -ergebnissen her lassen sich, so meint die Rezensentin, folgende Tendenzen und Gruppierungen des historischen Erzählens durch Schriftstellerinnen vornehmen und weiter untersuchen: 1) Erzählen unter dem Aspekt gender bzw. Frauen in der Geschichte, dies als Sonderform von 2) verschiedenen Funktionen von Geschichte in der Literatur, schließlich 3) die Vermischung von Geschichtserzählung mit anderen Genres. Damit ist noch nicht geklärt, was historisches Erzählen durch [End Page 113] männliche Autoren nicht oder anders thematisiert und leistet. Weitere Fragen wären etwa, ob bestimmte Epochen oder politische/persönliche Konstellationen bestimmte Genrevermischungen begünstigen oder ob weibliche Autoren öfter und überzeugender biographische und autobiographische Themen gestalten.

In dem vorliegenden Band gehörten zur ersten Gruppe Werke, die ein Programm weiblicher Geschichte aufstellen (Morgner), an historischen Persönlichkeiten einen weiblichen Selbstentwurf bieten oder auch Entwürfe männlicher Subjektivität, also Geschlechterrollen behandeln (Naubert, Unger, Bölte, Huch) und weibliche Identität historisch verankern (Unger, Paalzow). Die zweite Gruppe nutzt Historie dazu, die eigene erlebte Geschichte im größeren Zusammenhang zu verorten (Schirmacher, Andreas-Salomé), zu Maskenspiel und Empathie (Huch), als Rückzug aus der Gegenwart (Bäumer) bzw. Utopie (Wolf), schließlich als bloßen Vergleich ohne Moral (Gmeyner) oder gar zur Enthistorisierung (Aman). Zu den möglichen Genres, die mit dem Historischen vermischt werden, gehören Autobiographie (Schirmacher, Andreas-Salomé, Wolf), Biographie (Naubert, Bölte), Nationalgeschichte (Naubert), Gegenwartsdarstellung (Fouqué), Stadtgeschichte (Unger), aber auch Entwicklungsroman (Huch, Bölte), Familienroman (Paalzow, Fouqué), Märchen (Naubert) und Mythos (Bäumer, Wolf).

Waltraud Maierhofer
University of Iowa

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