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  • Das Innere der Natur und ihr Organ:von Albrecht von Haller zu Goethe
  • Leif Weatherby

Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.

—WA: II 11 59

Goethes Äusserungen über die Erschliessung neuer "Organe" entfalten ihren vollen Sinn im Kontext einer terminologischen Geschichte (um den Wortstamm organ- und seiner semantischen Metamorphosen), die für unser Verständnis der Goethezeit wesentlich ist. Das Problem der metaphysischen Erkenntnis nach Kant ist dieser Terminologiegeschichte we sentlich verbunden. Ein Organ ist gleichzeitig Ort und Funktion (z.B. das Auge und das Vermögen zu sehen), ein mit internen Regeln ausgestattetes Konkretes, das zugleich einen Bezug zum Allgemeinen hat. Goethe hat—in Auseinandersetzung mit Aristoteles, Kant, und insbesondere Hegel—zu dieser Geschichte gleichsam das Ende beigetragen. Im Folgenden setze ich mich zunächst anhand einer Reihe von Zitaten Albrecht von Hallers mit der Geschichte des Begriffs "Organ" auseinander. Hallers Aussagen über das nicht zu begreifende "Innere" der Natur sind prototypisch für die Naturphilosophie der Frühaufklärung, sie implizieren zudem eine Herausforderung für die nächste Generation: welche Werkzeuge eignen sich zum begreifenden Erfassen der Natur bzw. ermöglichen dieses erst?1

Einen Schlüsselmoment dieser Terminologie- und Geistesgeschichte finden wir in Kants Polemik gegen Leibniz in der Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden: KdrV). Im Anhang "Amphibolien der Reflexionsbegriffe" (B316– 49/A260–922) erläutert Kant: "Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde. . ." (B334/A278). Die "Dogmatik" der Rationalisten bestehe darin, das "Innere" der Dinge schlechthin (also ohne kritische Zergliederung des Beobachteten) wissen zu wollen. Weil aber "Natur" bei Kant aus analysierbaren Einheiten besteht, die wir im Verschmelzen von Anschauung und Begriff im Urteil konstituieren, reicht seine Analyse (Zergliederung) durchaus bis in die "Natur" hinein—wie weit, wissen wir nicht, denn wir bestimmen mit diesem Konstituieren nicht die von der Anschauung gelieferte Materie selbst. Entscheidend ist eine semantische Verschiebung: Der Begriff des "Inneren" verschiebt sich terminologisch—die Natur, und unser Wissen von ihr, bezieht sich bei Kant bekanntlich nicht mehr [End Page 191] auf das problematische Ideal einer (wie auch immer gearteten) direkten begrifflichen Erkenntnis der Dinge (daher der Terminus: " noumenon"), sondern auf unser (kritisch geläutertes) Wissen um die konstituierte erfahrbare Welt der "Erscheinungen," zwischen dem apperzeptiven Ich und der ungeformten Materie der Sinne.

Wie auch an anderer Stelle3 differenziert Kant die Sätze der Rationalisten gemäß ihrer Quellen in der Erkenntnis. Um weiteren Trugschlüssen vorzubauen, sei eine "transzendentale Topik" erforderlich, um reine Verstandesbegriffe (noumena) von Begriffen der sinnlichen Anschauung (phenomena) zu scheiden: handele eine Aussage von der Form der Anschauung, so liege die Reichweite unseres Wissens vom Inhalt der Behauptung innerhalb der Möglichkeit des Wissens und also auch in (topos—"Ort," daher Topik) dieser Form, allerdings decke das Urteil das von der Form Gelieferte (potentiell) gänzlich.

Beruht eine Aussage auf einem Verstandesbegriff, so können wir vieles über den Begriff selber wissen. Aber über diesen Begriff hinaus können wir nach Kant zum "Ding" nichts sagen. Der Bezug unserer Anschauung auf ein Objekt, "und was der transzendentale Grund dieser Einheit sei," so Kant weiter, ist ein

Geheimnis, [das] "ohne Zweifel zu tief verborgen" [liegt] als dass wir, die wir so gar uns selbst nur durch innern Sinn, mithin als Erscheinung, kennen, ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschung dazu brauchen könnten, etwas anderes, als immer wiederum Erscheinungen, aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen wollten.

(KdrV B334/A278; meine Hervorh.).

Ins Innere der Natur, aber auch in unser eigenes Inneres dringe unser geistiges Werkzeug demnach nicht.

Die oben zitierte Stelle aus der KdrV enthält zwei wichtige historische Hinweise in der Geschichte des größeren von Kant präzisierten methodologischen Problems. Der eine ist literaturgeschichtlicher ("Ins Innere der Natur" ist ein klarer Hinweis auf die Dichtung Albrecht von Hallers4), der andere metaphorologischer Art ("Werkzeug" und sein terminologisches Umfeld—Organ, Organon—stellen ein wichtiges Kapitel der Terminologiegeschichte dar). Zugleich mit der transzendentalphilosophischen Verschiebung des Topos vom "Inneren," erfährt auch der Terminus des "Werkzeugs" eine metaphorische Neuakzentuierung. Kants Fokus auf eine Methodologie, die—trotz alledem—von Haller und letztlich Newton inspiriert ist, weist...

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