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III „Denn nicht das, was ich will, tue ich …“: Die Diskussionen über die menschliche Freiheit in der christlichen Spätantike Sucht man nach einem locus classicus für das spezifisch christliche Verständnis der Willensschwäche, so wird man im siebten Kapitel des Römerbriefs des Apostels Paulus fündig. Der um 55/56 in Korinth entstandene Römerbrief, den Melanchthon als Handbuch der christlichen Dogmatik (compendium theologiae christianae) bezeichnete , gilt auch noch heute vielen Exegeten als „Geburtsstunde christlicher Theologie“, insofern hier nicht nur die innere Logik des Evangeliums aufgedeckt, sondern der Versuch unternommen wird, das Evangelium an der Wirklichkeit insgesamt zu bewahrheiten.1 Seine herausragende Bedeutung wird sinnfällig schon dadurch dokumentiert, dass er trotz anfänglich eher schleppender Rezeptionsgeschichte bereits früh an die Spitze des Corpus Paulinum gestellt wurde. In Röm 7,7-25 findet sich nun folgende oft zitierte und interpretierte Passage:2 7 Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Sondern ich lernte die Sünde nicht kennen außer durch das Gesetz. Denn auch von der Begierde wüsste ich nichts, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: „Du sollst nicht begehren!“ 8 Die Sünde gewann aber einen Anlass durch das Gebot und bewirkte in mir jegliche Begierde. Denn ohne das Gesetz ist die Sünde tot. 9 Nun lebte ich einst ohne Gesetz. Als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf, 10 ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben führen sollte, gereichte mir zum Tod. 11 Denn als die Sünde durch das Gebot einen Anlass gewonnen hatte, hat sie mich betrogen und durch dasselbe getötet. 12 Also: Das Gesetz ist heilig, und das Gebot heilig, gerecht und gut. 13 Das Gute gereichte mir also zum Tode? Das sei ferne! Sondern die Sünde! Damit sie als Sünde offenbar werde, bewirkte sie mir durch das Gute den Tod, damit die Sünde durch das Gebot über die Maßen sündhaft werde. 14 Wir wissen nämlich,3 dass das Gesetz geist1 Vgl. hierzu Theobald 2000, dessen Forschungsbericht zuverlässig über alle literarischen Aspekte des Römerbriefs informiert. 2 Die nachfolgende Übersetzung stammt von mir, wobei die diversen für diese Passage vorliegenden Übersetzungen berücksichtigt wurden. Weitere deutsche Bibelzitate im Text richten sich weitgehend nach der Einheitsübersetzung. 3 Von den neueren Übersetzern entscheidet sich hier nur Wilckens 1980 für die Lesart οἶδα μέν statt οἴδαμεν und übersetzt deshalb: „Ich weiß nämlich“. 210 teIl III lich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. 15 Denn ich begreife mein Handeln nicht. Denn nicht, was ich will, das führe ich aus, sondern was ich hasse, das tue ich. 16 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so stimme ich dem Gesetz bei, dass es gut ist. 17 Nunmehr vollbringe nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde. 18 Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, das Vollbringen des Guten aber nicht. 19 Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, führe ich aus. 20 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde. 21 Ich finde also das Gesetz, dass bei mir, der ich das Gute tun will, das Böse vorhanden ist. 22 Denn nach dem inneren Menschen stimme ich dem Gesetz Gottes mit Freuden zu. 23 Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. 24 Ich elender Mensch! Wer wird mich retten aus diesem Todesleib? 25 Dank aber sei Gott, durch Jesus Christus unseren Herrn. So diene ich nun mit meiner Vernunft dem Gesetz Gottes, mit meinem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde. Diese Passage als ganze, insbesondere aber der in den Versen 15ff. dublettenartig artikulierte Riss zwischen Wollen und Handeln, hat seit der ersten Kommentierung des Römerbriefs durch Origenes im dritten nachchristlichen Jahrhundert viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Man ist auf Grund der eindringlichen und eingängigen Formulierungen geneigt zu vermuten, hier die Keimzelle der christlichen Diskussion um das Phänomen der Willensschwäche gefunden zu haben: Was Medeas Monolog, die Ausführungen im Protagoras und in Politeia IV sowie Aristoteles‘ Nikomachische Ethik VII für die...

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