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  • Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850 by Franz Leander Fillafer
  • Wynfrid Kriegleder
Franz Leander Fillafer, Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850. Göttingen: Wallstein Verlag, 2020. 627 S.

Ein wahrlich monumentales Werk ist anzuzeigen. Das beginnt schon beim Umfang: 527 Seiten Text und ein Quellenverzeichnis von 90 Seiten, darunter deutsche, englische, französische, kroatische, lateinische, tschechische und ungarische Texte. (Vielleicht habe ich weitere Sprachen übersehen). Und auch der Anspruch ist monumental. Franz Leander Fillafer will nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte der habsburgischen Aufklärung neu schreiben und damit einige hartnäckige Mythen entsorgen: Die Genealogie der Aufklärung beschränkt sich nämlich keineswegs auf die westeuropäische Tradition der kirchlichen und der wissenschaftlichen Reformation, sondern speist sich auch aus vielen anderen Quellen, von der Bibelhermeneutik, dem katholischen Newtonianismus und der Barockscholastik bis zur Kameralistik und zur Naturrechtslehre. Die Aufklärung ist keineswegs eine verspätete Nachahmung Westeuropas in der defizitären zentraleuropäischen Region. Und sie führt nicht notwendigerweise zur (Französischen) Revolution und zur Volkssouveränität.

Die Geschichte der Aufklärung in der Habsburgermonarchie ist freilich intrikat, wie Fillafer zeigt. Denn im Vormärz inszenierte sich dieser Staat als konservatives Bollwerk gegen die Revolution und verleugnete offiziell die nach wie vor höchst wirksamen Effekte der Aufklärung, während umgekehrt die österreichischen Vormärz-Liberalen eine aufklärerische “Wunschvergangenheit” konstruierten und selektiv eine notwendige Linie vom Josephinismus (wie sie ihn verstanden) zu ihrer eigenen Position zogen. [End Page 173] Tatsächlich aber ist von Anfang an “die Geschichte der Aufklärung mit jener der Staatsbildung in der Habsburgermonarchie verknüpft.” (16)

An mehreren “Wissensgebieten” untersucht Fillafer diese Verknüpfung. Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert. “Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770–1848,” “Die katholische Aufklärung,” “Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar,” “Wissenskulturen des Vormärz,” “Vom Merkantilismus zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum,” “Naturrechtspraxis und Empire-Genese, Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte” sowie “Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Fremdbilder der Restauration.”

Zwei grundlegende Thesen bestimmen Fillafers Argumentation. Erstens: “Die Aufklärung” gab es nicht, es gab vielmehr konkurrierende, einander bekämpfende Spielarten der Aufklärung, die sich wechselseitig vorwarfen, die “falsche” Aufklärung zu vertreten oder gar eine Gegenaufklärung zu bilden. Erst nach der Französischen Revolution und stärker noch nach 1848 wurde die Aufklärung im allgemeinen Verständnis als zeitenthobenes “Projekt der säkular-demokratischen Moderne” (515) auf eine gottlose, geschichtsferne und notwendigerweise zur Revolution führende Praxis eingeschränkt. Solcherart wurde sie von den Liberalen als Erbe reklamiert und von den Konservativen als Gegner diffamiert. Und zweitens: In der Habsburgermonarchie gab es keineswegs nach 1790 eine reaktionäre Wende und eine “Demontage der Aufklärung.” Im Gegenteil, der aufklärerische Habitus der Eliten, vor allem der Bürokratie und der Aristokratie, schuf erst das habsburgische Imperium.

Das weite Feld, das Fillafer hier beackert, kann in einer kurzen Rezension nicht abgedeckt werden. Ich konzentriere ich mich auf zwei Gebiete.

In einem umfangreichen Kapitel rekonstruiert Fillafer die Entstehung und Auswirkung des 1812 veröffentlichten Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB), des kodifizierten Privatrechts, dessen Schöpfer Franz von Zeiller gegen den Widerstand Joseph von Sonnenfels’ die gesamte Materie privatisierte, allen (politischen) Fragen des öffentlichen Rechts auswich und gerade mit dieser Strategie erfolgreich war. Der scheinbar unpolitische Kodex, der alle Bürger vor dem Gesetz gleichstellte und den Staat letztlich als bürgerlichen Verein konzipierte, trug damit erheblich zur Ausbildung einer liberalen Gesellschaftsordnung bei, die freilich— was Fillafer nicht verschweigt—von den tatsächlichen sozialen und ökonomischen Verhältnissen abstrahierte. [End Page 174]

Das nach 1815 immer virulenter werdende “nationale Erwachen” der einzelnen Teilstaaten des habsburgischen Imperiums ist gleichfalls aufklärerischen Impulsen geschuldet. Der im 18. Jahrhundert aufkommende Landespatriotismus, der noch keinesfalls die Zugehörigkeit zu einem bestimmten “Vaterland” (z.B. Böhmen, Ungarn) mit einer bestimmten Muttersprache gleichsetzte, wurde nun als Projekt des funktionslos gewordenen ständischen Adels mit einer linguistischen Identität gleichgesetzt. So entstanden im vormärzlichen habsburgischen Imperium zwei ganz unterschiedliche Erinnerungskulturen. Die deutschösterreichischen Liberalen stilisierten sich zu Erben des Reformkaisers Joseph II. und beklagten eine angebliche Zäsur...

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