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  • Von Hungerlöhnern, Fabriktyrannen und dem Ideal ihrer Versöhnung. Der Beitrag des populären Romans zur Entstehung eines sozialen Erklärungsmusters ökonomischer Gegensätze der Industrialisierung. 1845–1862 by Johannes Brambora
  • Jost Hermand
Von Hungerlöhnern, Fabriktyrannen und dem Ideal ihrer Versöhnung. Der Beitrag des populären Romans zur Entstehung eines sozialen Erklärungsmusters ökonomischer Gegensätze der Industrialisierung. 1845–1862. Von Johannes Brambora. Bielefeld: Aisthesis, 2020. 324 Seiten.€39,80 broschiert oder eBook.

Rezensionen zu schreiben ist stets ein heikles Unterfangen. Lobt man Autor*innen, glauben sie sich nicht genug gelobt; kritisiert man, sind sie vergrätzt. Wählen wir also den Mittelweg zwischen diesen beiden Herangehensweisen. Um mit dem Erfreulichen zu beginnen: Im Gegensatz zu den häufig theorieüberfrachteten Studien dieser Art ist das Ganze auf eine wohltuende Weise lesbar geschrieben. Doch nicht nur das. Auch die thematische Gliederung dieses Buchs wirkt schon auf den ersten Blick sinnvoll und erleichtert den Einstieg in die Lektüre. Und zwar handelt es sich dabei, wie bereits der Titel andeutet, inhaltlich um die Analyse von fünf bisher weitgehend als populäre Kolportageromane abgewerteten Werken von Ernst Willkomm, Louise Otto-Peters, Max Ring, Robert Prutz und Adolf Schirmer, die zwischen 1845 und 1862 erschienen und sich, wenn auch zum Teil mit ins Triviale übergehenden Liebesgeschichten durchsetzt, als erste Romane mit der in diesem Zeitraum beginnenden Industrialisierung in Deutschland auseinandersetzen. Im Gegensatz zu älteren Studien zu diesem Thema weicht dabei Brambora keineswegs ins Poetologisch-Unverbindliche aus, sondern geht mit ideologiekritischer Perspektive höchst eindringlich auf die Frage ein, wie in diesen fünf Romanen die in ihnen stattfindende Konfrontation zwischen den kapitalistischen Fabrikherren und den ausgebeuteten Arbeiter*innen dargestellt wird, was jeweils in einem Schlussabschnitt auf sozialwissenschaftliche Weise zusammengefasst wird.

Dabei kommt Brambora, um es in der hier gebotenen Kürze wenigstens anzudeuten, zu folgenden Schlüssen: Während im Hinblick auf Ernst Willkomms Weisse Sclaven (1844) die Tendenz vorherrsche, dass die Rücksichtslosigkeit der Fabrikbesitzer in letzter Instanz nur durch ein Eingreifen des Staats zurückgedämmt werden könne, werde in Louise Otto-Peters’ Schloß und Fabrik (1846) vor allem auf die Unzulänglichkeit mildtätiger Vereine in der Armenfürsorge hingewiesen, in Max Rings Berlin und Breslau (1849) nach dem Scheitern der Achtundvierziger Revolution die Hoffnung auf eine staatsbürgerlich-gemeinschaftliche Gesinnung beschworen, die zu einer Vereinheitlichung des gesamten deutschen Volks führen würde, in Robert Prutz’ Das Engelchen (1851) die unaufhaltsam zunehmende Industrialisierung als allgemeiner Sittenverfall hingestellt sowie in Adolf Schirmers Fabrikanten und Arbeiter (1862) mit nachmärzlicher, bereits ins Nationalliberale übergehender Sehweise der Hauptakzent vornehmlich auf das gesellschaftliche Wohlverhalten der Fabrikherren gelegt.

All das werden sozialhistorisch eingestellte Literaturwissenschaftler*innen sicher begrüßen. Ebenso überzeugend wirken einige Hinweise auf im gleichen Zeitraum aktiv werdende Gesellschaftstheoretiker wie Lorenz von Stein, Hermann Püttmann, Wilhelm Weitling, Moses Hess und Karl Marx, die sich – wenn auch auf ideologisch höchst unterschiedliche Art – mit den selben in diesen fünf Romanen aufgeworfenen Fragen auseinandergesetzt haben. Ja, in dieser Hinsicht hätte man sich vielleicht noch etwas detailliertere Ausführungen zu sozialpolitischen Querverbindungen, Übereinstimmungen und Gegensätzlichkeiten gewünscht. Doch sei’s drum. Diese Vernachlässigung [End Page 305] soll nicht von der in Bramboras Buch höchst konkret durchgeführten Argumentationslogik ablenken, die auch in den meisten bisherigen Bänden der Reihe ,,Vormärz-Studien“, in der dieser Band erschienen ist, im Vordergrund steht. Dass dem Ganzen eine 2019 angenommene Promotionsarbeit an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg zugrunde liegt, erklärt wahrscheinlich den geradezu überbordenden Fußnotenreichtum und die seitenlange Bibliographie der bisherigen Sekundärliteratur zu der in diesem Buch behandelten Themenstellung, die zum Teil unnötig gewesen wären, aber für die Textsorte Dissertation charakteristisch sind.

Jost Hermand
University of Wisconsin–Madison
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