In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

  • Zufall in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues*
  • Merten Kröncke

Im sechsten Kapitel von Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues (1928/29) wird vom Kampf in den Grabensystemen des Ersten Weltkriegs erzählt. Noch bevor die Kampfhandlungen beginnen, reflektiert der Erzähler Paul Bäumer über ein Phänomen, dem er angesichts seiner Kriegserfahrungen besondere Wichtigkeit zumisst: den Zufall.

Wir liegen unter dem Gitter der Granatenbogen und leben in der Spannung des Ungewissen. über uns schwebt der Zufall. Wenn ein Geschoß kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin es schlägt, kann ich weder genau wissen noch beeinflussen. […] Ebenso zufällig, wie ich getroffen werde, bleibe ich am Leben. Im bombensicheren Unterstand kann ich zerquetscht werden, und auf freiem Felde zehn Stunden Trommelfeuer unverletzt überstehen. Jeder Soldat bleibt nur durch tausend Zufälle am Leben. Und jeder Soldat glaubt und vertraut dem Zufall.

(Remarque 91f.)

Bäumers Reflexion über die elementare Bedeutung des Zufalls fordert dazu heraus, dem Phänomen besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Doch einen Interpretationstext, der den Zufall in Remarques Roman zum Hauptuntersuchungsgegenstand macht, gibt es noch nicht.1 Freilich hat sich in jüngerer Zeit Matthias Schaffrick dem Zufallsphänomen in der Kriegsliteratur gewidmet und dessen Bedeutung programmatisch herausgestrichen. Schaffrick legt Analysen für Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) und Edlef Köppens Heeresbericht (1930) vor und kommt zu dem Ergebnis, dass der Zufall bei Jünger tendenziell in Schicksal umkodiert werde, während er bei Köppen die Funktion habe, die ,Sinnlosigkeit' des Krieges anzuzeigen. Zu Im Westen nichts Neues äußert sich Schaffrick allerdings nicht.

Ziel dieses Aufsatzes ist, den Zufall als analytische Kategorie fruchtbar zu machen und eine neue interpretatorische Perspektive auf Im Westen nichts Neues zu eröffnen. Drei Thesen sollen plausibilisiert werden: Erstens ist der [End Page 452] Zufall in Remarques Roman besonders präsent, sowohl was die Häufigkeit von Zufallsthematisierungen als auch was die episodische Struktur des Textes betrifft. Zweitens übernimmt der Zufall mehrere wichtige Funktionen, zum Beispiel die Funktion, das dargestellte Geschehen als besonders wirklichkeitsähnlich erscheinen zu lassen. Drittens durchläuft die Darstellung des Zufalls eine sinnvoll interpretierbare Entwicklung, nämlich eine Entwicklung von der Darstellung von ,Glück' zur Darstellung von ,Unglück'. Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile, in denen jeweils eine der drei Thesen entwickelt wird. Deutlich werden soll, dass der Zufall als interpretatorisch aufschlussreiche Kategorie analysierbar ist, die zu einem tieferen Verständnis von Im Westen nichts Neues, aber auch der Kriegsliteratur insgesamt beitragen kann.

Methodisch lässt sich an zwei Forschungsfelder anknüpfen: Zum einen werden – in begrenztem Umfang und begrenzter Komplexität – Verfahren der quantitativen Textanalyse aus dem Bereich der Digital Humanities zur Anwendung gebracht. Dadurch sollen einige Thesen sowohl quantitativ als auch qualitativ, also aus mehreren Perspektiven zugleich, gestützt werden, was nicht nur die Plausibilität solcher Thesen erhöht,2 sondern auch die untersuchten Phänomene noch umfänglicher zu erfassen erlaubt. Zum anderen bezieht sich der Aufsatz auf die narratologische Kategorie der ,Motivierung'. Genutzt wird das Motivierungskonzept von Jonas Koch, mit dem sich die Funktionen, die dem Zufall in Remarques Roman zukommen, analysieren lassen.3

I. Präsenz

Was ist mit ,Zufall' in Im Westen nichts Neues gemeint? In der bereits zitierten Zufallsreflexion spricht Bäumer vom ,,Ungewissen" und davon, dass man ,,weder genau wissen noch beeinflussen" könne, wo Geschosse einschlagen (Remarque 91). An anderer Stelle wird das nicht-intendierte, unvorhergesehene Zusammentreffen von Figuren als ,zufällig' bezeichnet (Remarque 26f.). Diese Indizien deuten darauf hin, dass der Begriff ,Zufall' in einem dem historischen und gegenwärtigen Alltagsverständnis nahestehenden Sinn verwendet wird, dass mit ,Zufall' in Remarques Roman also eine für die jeweilige Sprechinstanz (Erzähler oder Figur) unvorhergesehene Koinzidenz gemeint ist.4 Schon Aristoteles hatte den alltäglichen Zufallsbegriff ähnlich expliziert (Wetz 27–29; Kranz 1410f.). Mit einer solchen Bestimmung ist gleichwohl eine Differenzierung verbunden, die in der Begriffs- und Konzeptgeschichte des Zufalls von erheblicher Relevanz ist. ,Zufall' im hier gebrauchten Sinn wird zu einer subjektiven, epistemischen Kategorie. Demgegenüber ist die vieldiskutierte Frage, inwiefern es sich bei bestimmten Sachverhalten um ontische, das heißt objektive, tatsächliche Zufälle handelt, für Im Westen nichts...

pdf