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  • "O dass kein Flügel mich vom Boden hebt":Gang und Blick als Figuren der Überschreitung in Goethes Dichtung (Werthers Leiden, Hermann und Dorothea, Wahlverwandtschaften, Faust)
  • Helmut J. Schneider

Das kunst- und literaturgeschichtliche Interesse für den Wechselbezug von Raum und Subjekt, wie er sich über die körperliche Bewegung und den Blick bestimmt, besitzt im Motiv des Spaziergangs oder der Wanderung in der Landschaft einen privilegierten Gegenstand. Dafür ist nicht zuletzt die historische Verankerung im europäischen 18. Jahrhundert und der Romantik verantwortlich, die das weite und leicht ausufernde Forschungsfeld hier an einem fest umrissenen Ursprungsort zu beschreiben erlaubt. Mit dem Gang in die freie Natur initiierte die Aufklärung eine bald (in der westlichen Welt) alltägliche Kulturpraxis, die symbolisch für ihren Emanzipationsanspruch steht. Der Aufbruch "ins Freie" vor die Tore der Stadt öffnete die geschlossene Welt des Hergebrachten und Gewohnten in einen ästhetischen Erfahrungsraum, in dem sich das Individuum einer neu gewonnenen Autonomie vergewisserte. Gehen und Sehen verbanden sich in der Landschaft zur wechselseitigen Raum- und Selbsterkundung.1

Goethes Werk, dem die folgenden, höchst selektiven Bemerkungen gelten, knüpft an diesen aufklärerischen Kontext an und führt ihn nach englischen (Addison, Shaftesbury, Thomson) und französischen (Rousseau) Vorgängern zu einem Höhepunkt, der der europäischen Romantik den Weg bereitete. An drei ausgewählten Beispielen der erzählenden Dichtung aus distinkten Schaffensperioden—Die Leiden des jungen Werther (1774), Hermann und Dorothea (1797), Wahlverwandtschaften (1809)—denen als Rahmen zwei, auch autobiographisch beziehbare Szenen aus den beiden Teilen des Faust vor- bzw. nachgestellt werden, soll die im Zusammenspiel von Gehen und Sehen realisierte Beziehung zwischen Raumorganisation und Selbstverortung der Figuren skizziert werden. Dabei gibt der befreiende Aufbruch, der der modernen Landschaft von ihrem Ursprung her eigen war, die leitende Perspektive ab. In der Bewegung im Raum—sei es der offenen Natur, sei es der kleinstädtisch-ländlichen Umgebung, sei es des spätfeudal-aristokratischen Landschaftsparks, sei es schließlich des Kolonisierungswerks der Meer-Eindeichung—versichert sich das Individuum in buchstäblich körperlicher [End Page 3] Weise seiner Selbstständigkeit, die es freilich, das ist der kritische Fluchtpunkt der behandelten Texte, auch aus seinen sozialen und zuletzt kreatürlichen Bindungen lösen kann. Der Landschaftsgang entbindet eine Dynamik, die den Gehenden aus seinen gewöhnlichen Verhältnissen in die Einsamkeit führt, das schnellere Auge vom langsameren Körper trennt und die sichtbare Welt in eine grundlose Einbildungskraft überschreitet. Diese Spannung zwischen Befreiung und Orientierungsverlust soll zunächst an einer Szene aus Goethes Faust aufgewiesen und mit einigen autobiographischen Zeugnissen illustriert werden.2

Fausts Osterspaziergang: Aufbruch und Entgrenzung

Die Szene "Vor dem Tor" des Faust-Dramas, der das Zitat im Titel des Beitrags entnommen ist, stellt eine veritable Re-inszenierung des aufklärerischen Landschaftsaufbruchs dar. Sie folgt auf den düsteren Einsatz der sogenannten Gelehrtentragödie—Überschrift: "Nacht. In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer"—die den Protagonisten nach seinen gescheiterten Versuchen, den Schranken des Wissens und der menschlichen Existenz zu entkommen, bis an die Grenze des Suizids geführt hatte, vor dem ihn Glocken und Gesang der Mitternachtsmette mit der Erinnerung an seine Kindheit retteten. Nun öffnet sich der Schauplatz und gibt den Blick frei auf eine Menge städtischer Spaziergänger, die sich in der erwachenden Frühlingslandschaft ergehen. "Kehre dich um, von diesen Höhen / Nach der Stadt zurück zu sehen. / Aus dem hohlen, finstern Tor / Dringt ein buntes Gewimmel hervor. / Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn," so Faust, der selbst Auferstandene, zu seinem Begleiter Wagner, bevor sich beide in das bunte Treiben mischen, und er fährt fort:

Denn sie sind selber auferstanden,Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden,Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,Aus der Straßen quetschender Enge,Aus der Kirchen ehrwürdiger NachtSind sie alle an's Licht gebracht.

(Faust I: 915–28)3

Die Passage enthält ein deutliches Echo von Goethes eigener Frankfurter Kindheit und Jugend, die hier für einen Moment näher betrachtet werden soll. In Dichtung und Wahrheit (1811/14) beschreibt Goethe seine frühen ländlichen Ausflüge (FA 14:32–33...

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