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  • Rolle des Chors
  • Jean-Luc Nancy (bio)
    Translated by Christina Schmidt

Ein Chor beginnt jede Geschichte, immer.Ein Chor kommt vor jedem Protagonisten.Vor jedem zweiten Schauspieler und allen Gegenspielern.Vor Wortgefechten, Waffengefechten und Todeskämpfen.Bevor ein Einzelner anhebt, allein zu sprechen.Bevor eine Einzelne ihre Stimme erhebt.

Bevor irgendjemand „ich" sagt.

Der vor allem kommende Chor sagt „ich", aber es ist nicht das Ich, das wir kennen.Es ist nicht das „ich" eines einzigen Mundes.Es ist nicht das „ich", das angesichts anderer ausgesprochen wird.Weder angesichts der Weite der Ebenen oder des Ozeans noch in durchwachter Nacht aufeinem Wachturmnoch im dunklen Winkel einsamer Klage.

Der erste Chor sagt „ich" aus hundert verschiedenen Mündern.Eine Vielzahl geht voraus, eine versammelte Menge ist dem Sprechen eines jeden vorausgegangen.Sogar das Sprechen selbst ist sich in dieser Zusammenkunft vorausgegangen.Es hat sich für die Möglichkeit zu sprechen geöffnet.

Denn wie, wenn nicht zu mehreren sprechen?Das Mehrfache kommt vor dem SprechenDas Mehrfache spricht vor jedem Einzelnen

Es ist kein Beginn: es ist davor, es ist immer schon davorEs ist nicht einmal zuerst, es ist noch davorEs ist niemals gekommen, es war schon immer daDas Mehrfache, die Mehrzahl.

Aber auch ein Einzelner kann nicht beginnen: er muss zumindest zu sich selbst sprechen.Aber wie könnte er, ohne sich von sich selbst zu unterscheiden?Wie, ohne sich zu einem anderen zu machen? [End Page 8]

Aber wer kann sich je zu einem anderen machen? Keiner kann das.Wer „ich" sagt, kann sich nicht als ein anderer erfinden, außer er spielt eine Theaterszene:und dies nur, wenn bereits eine Teilung in zwei Rollen vorliegt,Einen Protagonisten und einen Deuteragonisten,Einen Rivalen und dessen Rivalen,Eine Vertrauende und deren Vertraute,Einen Wachenden und einen Ankommenden.

Wie aber sich diese Rollen teilen.Wie sich teilen,Ohne einen Blick, ein Ohr für sie,Für diese Schauspieler, Masken, Darsteller?

Jede oder jeder von ihnen wird also das Publikum des anderen wie auch seiner selbst sein.

Eine wirkliche Öffentlichkeit, präsentiert auf der BühneDamit das Publikum sich repräsentiert siehtUnd sein Denken in Szene gesetztSeine Angst und sein verlautbartes Mitleid.

So wird jede und jeder aus der FabelAuch einen fabulösen Doppelgänger habenDer sich selbst wiederum vervielfachen kannUm Menge zu werdenHörend sehendSeine Empfindungen wiederum mitteilend.

All diesen Doppelgängern wird man selbst wieder Masken, einfache Kostüme undErscheinungsweisen geben,Auch Stimme, um in gemeinsamem KlangLaut werden zu lassenDas Chorlied:Oioioioi,Opopoi, ola, was kommt da,Was, sagt mir, geht dort vorbei,Was ist da unter uns, das uns nicht völlig gleicht,Das nicht mit uns allen übereinstimmtUnd dennoch, dennoch ist wie wir? [End Page 9]

Oh, arme Menschen, die ich seheIch, die MenschenmengeOh glanzvolle Helden schöne GestaltenHervorgetreten aus meiner vielköpfigen MengeIhr werdet zu mir zurückkehrenIhr werdet mir euren Glanz und eure Tränen bringenEure Wunden euren Gesang euren SchmuckIch werde alles bei mir verbergenAlles in meiner zutiefst dunklen MehrzahlIm Mehrfachen, das vor euch allen warIm Herzen meines ChorsIm Verborgenen dieser TanzschritteWo vielzählig ich uns wiege. [End Page 10]

Jean-Luc Nancy
Strasbourg
Jean-Luc Nancy

Jean-Luc Nancy ist Professor emeritus für Philosophie der Université de Strasbourg. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen u. a. Die undarstellbare Gemeinschaft (1988), Singulär plural sein (2005), Die herausgeforderte Gemeinschaft (2008); zuletzt publiziert: Trunkenheit (2016).

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