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  • Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800 by Tobias Heinrich
  • Renata T. Fuchs
Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800.
Von Tobias Heinrich. Köln: Böhlau, 2016. 199 Seiten + 5 s/w Abbildungen. €35,00.

Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800 ist ein gelungener Versuch des Autors Tobias Heinrich, einen besseren Überblick über die Gattungs- und Diskursgeschichte der Biographik um 1800 zu verschaffen, als es bis jetzt der Fall war. Seit den 1980er Jahren erlebte die Biographieforschung einen neuen Aufschwung insbesondere mit soziologischem Fokus. Auf der internationalen Ebene ist die Bedeutung (auto-)biographischer Ego-Dokumente durch das weite Feld der angloamerikanischen Life Writing-Praxis und -Forschung belegt.

Mit seiner Arbeit ergänzt Heinrich die Life Writing-Forschung, indem er fünf komplementäre Betrachtungswinkel schildert, die die multidimensionale Debatte zur Gattungskonstitution biographischer Schreibweisen um 1800 erfassen. Somit unterstützt die Diskussion um die narrative Lebensbeschreibung als literarische Form die Abgrenzung von älteren Praktiken der Erinnerungskultur. Das biographische Schreiben wird von seinen Theoretikern und Praktikern – wie Johann Gottfried Herder, Johann Matthias Schröckh, Johann Georg Wiggers und Daniel Jenisch – als hermeneutisches Verfahren beschrieben, das vor allem die intellektuelle Entwicklung eines Menschen rekonstruieren will und dabei auch zu allgemeinen anthropologischen Erkenntnissen gelangen kann. Im Unterschied zur typologischen Biographik des Mittelalters und der Antike unternimmt die neuzeitliche Lebensbeschreibung eine systematische Darlegung der Einzigartigkeit ihres Gegenstandes, das heißt, die Rede über Form und Funktion der Biographie um 1800 umkreist die zeitgenössiche Vorstellung von Individualität und erkennt die geistige und charakterliche Wandlungsfähigkeit des Menschen.

Mit den Schlüsselfragen der ,,biographischen Konstruktion von Individualität“ (12) und der Herstellung einer ,,narrative[n] Kommunikationsstruktur“ (14) schafft Heinrich den Rahmen für die Systematisierung des Begriffes ,,Biographie“, der zuerst als ,,dynamisches Verständnis“ (8) zugrunde gelegt wird. In seiner Untersuchung bezieht sich der Autor auf das hybride Feld der Life Writing-Forschung, indem er Lebensbeschreibungen, Viten, Nekrologe, Porträts und Denkmäler in Betracht zieht. Zugleich liefert seine Arbeit den theoretischen Hintergrund, indem sie die subjekttheoretischen Überlegungen Gérard Genettes (32), Jacques Lacans (82) und Michel Foucaults (146) zu Gedächtnis, Bild und Schrift berücksichtigt.

Heinrichs thematisch gegliederte Analyse diskutiert in fünf Kapiteln verschiedene Perspektiven aufgeklärter Biographik, wobei die zeitgenössische Gattungsdiskussion mit einem argumentationsgeschichtlichen Ansatz umfassend rekonstruiert wird und die rhetorischen Strategien beleuchtet werden.

In Kapitel 1 (,,Gedächtnis“) richtet Heinrich den Fokus auf Johann Gottfried Herders Schriften und gibt den Überblick über kollektive Gedächtnismethoden. Seine [End Page 267] Behauptung, dass Biographik auf die Zukunft ausgerichtet sei, wird mit der Erklärung über das Werk des Verstorbenen als eine Art des Archivs belegt. Die Basis dafür ist die ,,Sorge um das intellektuelle Vermächtnis“ (42). Das gemeinschaftliche Gedenken in der Form der Totenfeste und Nänien zeigt ,,die fortwährende Sorge der Lebenden um jene, die bereits aus dem Leben geschieden sind“ (33). Es handelt sich hier nicht nur um das Erbe der Verstorbenen, sondern auch um die Tatsache, dass die Toten im kollektiven Gedächtnis Teil der Gemeinschaft bleiben.

In Kapitel 2 (,,Bild“) zeigt Heinrich, wie die Gattung Biographie durch die Bezüge zur bildenden Kunst definiert wurde. Der Autor bezieht sich hier auf Thomas Abbt und seine Bemühungen, das Potenzial der Biographik anhand der Analogie zur Porträtmalerei darzustellen. Die Geschichtsschreibung wird mit dem Beispiel des Modells der Galerie skizziert. Die Biographie kann in diesem Zusammenhang als Kunstwerk betrachtet werden, und ihr Gehalt wird nicht auf ,,die Erzeugung biographischer Wahrheit und Faktizität reduziert“, sondern wirkt als die ,,Quelle epistemologischer Multiperspektivität und subjekttheoretischer Selbstreflexion“ (60). Die Metapher des Spiegels (wie bei Daniel Jenisch gezeigt) steht für Verwandlung des Subjekts in das biographische Objekt und gründet die Verknüpfung zwischen ihm und seiner Epoche. Zuletzt bespricht Heinrich die Rolle des Denkmals, das als physischer und schriftstellerischer Ort das Dasein des Verstorbenen sichern soll. Herder bezeichnet das Denkmal als einen fragmenthaften Torso, die ideale Metapher für die Unmöglichkeit einer vollkommenen Repräsentation, den Eigenwert des Biographischen, des komplexen Lebens, zu bewahren. Der Schrift kommt dabei die Substitutionsfunktion zu, die dem Bildnis zugeschrieben wurde.

Kapitel 3 (,,Exempel“) betont, dass die didaktischen Intentionen der aufgeklärten Biographik...

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