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  • Der Bilderrahmen des Realismus
  • Jürgen Fohrmann (bio)

I. Vorüberlegungen

Die Programmatik des 'poetischen Realismus' in Deutschland und Texte Fontanes, Kellers, C. F. Meyers, Raabes, Stifters und Storms sind zwar nicht ohne Kontiguität; eine Eins-zu-Eins-Bezugnahme im Sinne von Programm und literarischer Applikation will jedoch nicht so leicht gelingen. Nun ist ja die poetische Programmreflexion oft sehr viel schlichter als die literarische Praxis selbst, und man verpasst in der Regel das Meiste, wenn man hier einsinnige Übertragungen vornimmt. Einzellektüren, die der Komplexität der Texte gerecht zu werden versuchen, konterkarieren daher auch sehr schnell alle Konstruktionen, die sich bemühen, eine Regel-Anwendungsbeziehung nachzuweisen.

Dennoch beginnen die nachfolgenden Ausführungen mit einer knappen Skizze der Programmaussagen des deutschen Realismus, um sich dann den ästhetischen Strategien zuzuwenden, die aus den grundsätzlichen Entscheidungen des Projekts 'Realismus' entstehen. Ziel ist es, bei einem tertium comparationis anzukommen, das dann in weiteren Schritten in genaue Textlektüren zu übersetzen wäre.

Vorausgeschickt sei die Annahme, dass es wenig Sinn macht, 'realistische Literatur' als eine zu definieren, die—im Unterschied zu einer Literatur, die dies nicht täte—über ihre referentiellen Bezüge gleichsam ontologisch ausgewiesen ist. Abgesehen davon, dass nicht selten ganz unzulässig zwischen 'Wirklichkeit' (ein medien- und formloses Etwas) und 'Text' (der dann eben 'Nicht-Wirklichkeit' ist) geschieden wurde, hat jeder Text referentielle Bezüge, und kein [End Page 734] Text lässt sich gleichzeitig auf die vollständige Wiederholung dieser referentiellen Bezüge beschränken. Insofern ist im Sinne von imitatio rerum et naturae alles 'realistisch' und zugleich nichts.

Blickt man auf die poetische Diskussion am Beginn des deutschen 18. Jahrhunderts zurück, so wird man sagen können, dass die spätere Rede von 'realistischer Literatur' oder gar 'poetischem Realismus' von Anfang an wie ein Oxymoron gehandhabt werden kann. Denn das, was trotz der Authentizitätsgeste 'gefundener Dokumente' seit der Frühaufklärung in Deutschland auch schon als Fiktion verhandelt wird, konnte und sollte erkennbar als Artefakt 'Literatur' zu lesen sein; und es sollte zugleich in der kurrenten Mimesis-Beteuerung als 'realistisch' gewertet werden. In diesem oxymoralen Spiel geht es dieser Literatur dann darum—und dies zusehends nachhaltiger—, die Lizenzen des Möglichkeitsbegriffs zu nutzen und in der Erzeugung des Wahrscheinlichen, aber nicht dokumentarisch Wirklichen, jenen Schreibraum zu gewinnen, den die vielen Welten eines Leibniz zulassen, und ihn dann so auszugestalten, dass unter der Hand der Triumphgesang moderner Poesie angestimmt werden kann (vgl. Bodmer). Bei solcher Ausrichtung des Poetischen entsteht allerdings die Möglichkeit einer dreifachen 'Codierung': Literatur distanziert sich (erstens) von und referiert (zweitens) auf 'Wirklichkeit.' Sie pluralisiert damit den Wirklichkeitsbegriff im Modus unterschiedlicher Darstellbarkeit. Und drittens ist Literatur als Artefakt selbst Teil einer Wirklichkeit, eben der Wirklichkeit hervorgebrachter Literatur im Raum sozialer Kommunikation. Sie ist Teil eines realen Textuniversums.

Wenn aber die Möglichkeit und spätere Aufgabe der Literatur darin besteht, etwas darzustellen, was nicht existiert, wohl aber existieren könnte, so wird alle Abwägung über poetische Lizenz (und auf ihrer Kehrseite dann auch 'Realismus') in den Wahrscheinlichkeitsbegriff gelegt. In der ihn bestimmenden Spannung von Übersteigen des 'wirklich Existierenden' einer- und einer Rückbindung an dieses 'Wirkliche' andererseits fokussiert sich die gesamte poetologische Diskussion zwischen den Körpern von Engeln in der Frühaufklärung (Milton-Rezeption) und der Romantik in Deutschland mit ihren vielen Magien der Einbildungskraft. Und es gehört von Anfang an eigentlich gerade zum Fiktionalitätsausweis, dass—nun entgegen dem 'lusus ingenii'—in einer Herausgeberfiktion eine extraliterarische Referenz als Wahrheitsbürge herangezogen wird—dies schon in dem Wissen, dass der Leser den fiktionalen Charakter dieses Gestus erkennt.

Bei der oxymoralen Rede von 'realistischer Literatur' wird nun das Paradox, dass das Wahrscheinliche sowohl das Reale als auch Nicht-Reale [End Page 735] sein soll, im Sinne einer re-entry-Figur genutzt (vgl. George Spencer-Brown). Ihre Funktion liegt darin, im Feld der Literatur einen Unterschied zu machen, der eine Programmdifferenzierung dieser Literatur ermöglicht: realistische und nicht-realistische Literatur. Realistische Literatur wäre dann eine, die—in deutlicher Abgrenzung vom Nicht-Realistischen—ihren referentiellen Bezug als einen in der 'wirklichen Wirklichkeit' vorhandenen nun auf die eine oder andere Weise erkennbar macht und dafür ein bestimmtes Darstellungsverfahren (pragmatische...

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