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Reviewed by:
  • Franz Kafka und der Große Krieg. Eine kulturhistorische Chronik seines Schreibens by Bernd Neumann
  • Ulrike Schneider
Bernd Neumann, Franz Kafka und der Große Krieg. Eine kulturhistorische Chronik seines Schreibens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 425S.

Sich an neuen Interpretationen des Werkes und Lebens von Franz Kafka zu versuchen, ist kein leichtes Unterfangen, existieren doch mittlerweile etliche Regalmeter Forschungsliteratur und eine kaum mehr zu überblickende Anzahl von Aufsätzen zum “Weltschriftsteller” Kafka. Im vergangenen Jahr sind zwei weitere Veröffentlichungen hinzugekommen, von denen die eine im deutschen Sprachraum lang erwartet wurde: Reiner Stachs dritter und letzter Teil seiner Kafka-Biographie, der chronologisch die “Frühen Jahre” des Prager Autors beschreibt. In Ergänzung zu Stachs biographisch-sozialhistorischen Darstellungen positioniert sich der Germanist Bernd Neumann mit einer kulturhistorisch ausgerichteten Arbeit, die, wie es in der Einleitung [End Page 131] heißt, die “Abfolgekette bestimmter, oft diskutierter Schlüsselereignisse aus Vorkrieg und Weltkrieg [. . .], besondere ‘Cluster sozialer Energie’” (15) als Beweggründe für Kafkas Schreiben versteht. Die Rekonstruktion der “kulturgeschichtlichen Epoche” in Verbindung mit erweiterten und neuen Analysen der Texte, mit denen bisher Verborgenes aufgedeckt werden soll, bildet somit das Zentrum von Neumanns Abhandlung. Sie schließt zugleich eng an seine bereits 2008 im Wilhelm Fink Verlag publizierte Biographie “Franz Kafk a. Gesellschaftskrieger” an, fokussiert jedoch stärker auf den im Titel angedeuteten Ersten Weltkrieg, passend zum Erscheinungsdatum im Gedenkjahr 2014.

Die Gliederung des Buches orientiert sich an den Lebensstationen Kafkas. Im ersten Teil, der mit “Cluster sozialer Energie, oder: Bilder aus der Vorkriegswelt 1900–1914” überschrieben ist, verweist Neumann auf prägende zeitgeschichtliche Ereignisse, u.a. den Dreyfus-Prozeß, die Balkankriege, sowie kulturgeschichtliche Entwicklungen, u.a. die (posthumen) Veröffentlichungen von Freud und Nietzsche, die Pariser Weltausstellung oder die Entwicklung der Kinematographie, deren Spuren er in seiner Kafk a-Lektüre rekonstruiert. Die Problematik von Assimilation und Akkulturation greift Neumann am Beispiel des Romanfragments “Der Verschollene” auf und eröffnet hier durchaus interessante Ansätze, wenn er die Befragung eines “multinationalen Gemeinwesens” (93) durch eine Analyse der Figurenkonstellationen in den Blick nimmt. Der Anspruch seiner Untersuchung, “Lebensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte und Sozialgeschichte als Schreibgeschichte” (186) zu erörtern, wird hier deutlich. Er verliert sich jedoch im ersten Teil gleichzeitig, da die von Neumann unternommene Parallelisierung zwischen der sich zuspitzenden politischen Situation vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und Kafkas familiären “Kriegsgeschehen” kaum durch erhellende Argumente belegt wird. Vielmehr folgt der Germanist bereits veröffentlichten biographischen Abhandlungen, wie denen von Hartmut Binder, Reiner Stach, Peter-andré Alt, auch wenn er sich wiederholt polemisch insbesondere gegen Stach und Alt wendet, ohne diese explizit anzuführen. Zum anderen wird die inhaltliche Auseinandersetzung mit den frühen Werken durch die gewählte Kriegsmetaphorik verstellt: Kafkas Leben wird als Kriegsgeschehen verstanden, ob es sich nun um den Familien-und Verlobungskrieg oder die gesellschaflichen Auseinandersetzungen innerhalb des deutsch-jüdisch-tschechischen Gefüges in Prag handelt. Der “Große Krieg” bleibt in diesem ersten Teil zugleich wieder auf das engere familiäre Umfeld bezogen, da bereits mehrfach interpretierte Erzählungen wie “Die Verwandlung” [End Page 132] oder “Das Urteil” im Gegensatz zum angekündigten Vorhaben weiterhin als biographische “Familiennovellen” (133) gelesen werden.

Im zweiten Teil steht “Franz Kafkas Großer Krieg” im Mittelpunkt, der sich im Besonderen auf das Romanfragment “Der Proceß” konzentriert. Im Unterschied zu biographischen Ansätzen, nach denen die Trennung von Felice Bauer als Movens für den Schreibprozess betrachtet wird, datiert Neumann den Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Schreibbeginn. Der “Proceß” werde damit zum “Weltkriegsroman” (S. 234), indem der Kampf um die Assimilation in Form des “durstigen Assimilationskämpfers” Josef K. (253) verhandelt werde. Über Theodor W. Adornos Kafka Lektüre als auch Hannah Arendts Abhandlungen zum Totalitarismus, die als “seit Jahrzehnten vergessene” (256/266) Arbeiten äußerst überspitzt gegen die neuere Forschungsliteratur ins Feld geführt werden, begründet Neumann seine Deutung des Romans, in welchem sich Kafkas Wahrnehmung des “Großen Krieg[es] als jenem katastrophalen Auflöser (sic) der liberal-bürgerlichen Vorkriegsordnung” (277) zeige. Diese Ausrichtung verfolgt Neumann auch in der Erläuterung einiger Erzählungen von Kafka, wie “Der Jäger Gracchus”, “Der Kübelreiter” oder “Der Gruftwächter”, die im Umfeld des Romanfragmentes...

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