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  • “Politik der Körper, Körper der Politik.”Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton’s Tod
  • Jörn Etzold (bio) and Maud Meyzaud (bio)

Choreographie des Texts

Dieser Aufsatz behandelt die zeitgenössische Inszenierung eines kanonischen Theatertexts. Er geht also von einer Grundannahme aus: Die Emanzipation der theatralen Mittel seit den historischen Avantgarden mag zwar die absolute Vorgängigkeit des Dramentextes aufgehoben haben – doch hat sich damit keineswegs die Frage erledigt, welche Rolle der Text und die Sprache für das Theater der Gegenwart spielen und spielen können. Mag man auch in vielen neueren Theaterformen eine Abkehr vom Text erkennen, so lässt sich auf der anderen Seite keineswegs übersehen, dass jener in vielen entscheidenden Arbeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eminent wichtige Rolle spielte, so in den Inszenierungen von Klaus Michael Grüber, Heiner Müller, Robert Wilson oder Dimiter Gotscheff oder in den Filmen von Jean-Marie Straub und Danielle Huillet. Zwar wurde hier auf verschiedene Weise mit den Darstellungskonventionen des 19. Jahrhunderts gebrochen: Es wurde ein Sprechen erprobt, das nicht nach Ausdruck einer Innerlichkeit suchte, sondern die Physis der Sprechenden mit der Physis der Sprache konfrontierte. Dennoch aber blieben diese Arbeiten Arbeit am Text, Arbeit mit dem Text. Siebehandelten den Text nicht bloß als sinnliches Material, sondern schlossen ihn gerade dadurch auf, dass sie etwas anderes in ihm hörbar machten als Figurenrede und dramatische Handlung.

In jüngerer Zeit haben vor allem die Inszenierungen von Laurent Chetouane auf besonders intensive Weise mit dem Text gearbeitet. Dies ist vielleicht kein Zufall: Denn ganz so wie Grüber oder Straub ist Chetouane (ein französischer Muttersprachler) mit der französischen Tradition der Deklamation vertraut, mit einem gefügten Sprechen also, dessen Ideale weniger Natürlichkeit und Ausdruck, als vielmehr Eleganz und Formvollendung sind. Zugleich aber ist Chetouane ausgebildeter Ingenieur: Sein Zugriff auf Sprache (und neuerdings auf Tanz) ist derjenige eines Menschen, der gelernt hat, Sachen auseinanderzubauen und wieder zusammenzuschrauben. Gerade als Ingenieur aber fand Chetouane auch seinen Zugang zur deutschen, ihm eigentlich fremden Sprache: Denn es ist ja gerade das Prinzip des Deutschen, dass in ihm die einzelnen Worte zusammengesteckt werden wie Elemente eines Baukastens. Die Konfrontation der französischen Tradition der Deklamation mit der Ingenieurskunst und dem Baukastenprinzip des Deutschen scheint uns recht eigentlich den idiosynkratischen Zugang Chetouanes zu den “großen” Texten der klassischen deutschen Moderne zu bezeichnen, zu Goethes Faust, Hölderlins Empedokles und Brechts Fatzer oder auch zu Arbeiten Büchners wie Woyzeck, Lenz und zuletzt Danton’s Tod. Dabei ist auffällig, dass diese Inszenierungen schon von Beginn an die Grenze zwischen einem vermeintlich “konventionellen” Texttheater und einem oft als “postdramatisch” bezeichneten, von Malerei, Tanz, Musik, Videokunst, Kino und Performance Art inspirierten Bühnengeschehen ignoriert haben. Im Fall seiner Inszenierung von Büchners Danton’s Tod aber, die im Frühling 2010 im Schauspiel Köln gezeigt wurde, ergibt sich aus diesem Zusammentreffen eine besonders glückliche Konstellation.1 [End Page 153]

Chetouanes Inszenierung stellt Büchners Text nämlich nicht einfach im Sinne einer Theorie des “Postdramatischen” auf die Bühne – indem sie also den Text als bloßes Material behandelt, die Physis des Textes mit der Physis der Sprechenden konfrontiert, sein klangliches und rhythmisches Potential zu Gehör bringt. Freilich, sie tut dies auch. Doch indem sie dies tut, schließt sie zugleich eine kulturgeschichtliche Tiefendimension des Textes auf. Gerade weil Chetouane Büchners Text nicht als “Drama” inszeniert – die Inszenierung hat viel mehr mit einem Tanzstück gemein als mit traditionellem Sprechtheater und verweist insofern darauf, dass Chetouanes weiterer Weg in die Choreographie führen wird -, geht der Status des Textes über den eines mit den anderen theatralen Mitteln gleichwertigen Materials hinaus. Denn eben durch dieses “choreographische” Inszenieren wird es möglich, den Text Büchners auf besondere Weise zu hören, wahrzunehmen und zu verstehen. Denn uns scheint, dass jener Text, obgleich er freilich auch eine dramatische Handlung erzählt – den Fall und den Tod Georges Dantons -, doch viel grundlegender etwas zur Darstellung bringt, was nicht als Handlung gefasst werden kann. Genauer: Büchner unternimmt eine problematische Situierung des Menschen und seiner Physis in einem neuartigen Kosmos, den die Modernität eröffnet hat...

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