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  • Die Feuerprobe der Nynianne:Liebesmacht und Wissensglück in Dorothea Schlegels Merlin-Bearbeitung
  • Anja Gerigk (bio)

Die Geschichte des Zauberers Merlin wird 1804 nicht unter dem Namen der Verfasserin, sondern als Arbeit Friedrich Schlegels veröffentlicht (Schlegel/ Schlegel 133). Dass die französische Vorlage, das Buch Merlin von Robert de Boron, allein von Dorothea Veit — seit 1804 verheiratete Schlegel — frei in eine deutschsprachige Erzählung übertragen wurde, dürfte der breiteren Öffentlichkeit erst mit dem Artikel der Allgemeinen Deutschen Biographie von 1890 bekannt geworden sein (Muncker). Bis heute gibt es keinen Forschungsbeitrag, der den Eigenanteil dieser Nachdichtung interpretiert. Insbesondere die Schlussepisode der Taten Merlins, seine Liebe zu Nynianne und die festbannende Verwandlung durch sie, enthält verkapselt die Geschichte eines weiblichen Zauberlehrlings. Dieses Narrativ soll freigelegt werden, weil es ein einzigartiges Dokument der kulturellen Verhandlung weiblichen Glücksstrebens um 1800 darstellt: Im Nynianne-Stoff wird das pädagogische Wissen über die Bildung der Frau von der Aufklärung bis zur Romantik in seinen Konflikten resümiert, vor allem jedoch durch einen völlig neuen Entwurf über zeitgenössische Modelle der Geschlechterbeziehung hinausgetrieben. Es lässt sich gar behaupten, dass jener Mythos, so wie ihn Dorothea Schlegels Bearbeitung aktualisiert, in manchem moderner und wegweisender denkt als Friedrich Schlegels Avantgarde-Roman Lucinde (1799). Unter der Deckung männlicher Herausgeberschaft schreiben die Auszüge des Merlin, welche hier interessieren, einen apokryphen Kommentar zu Friedrichs Utopie einer allseitig ebenbürtigen, komplementär harmonisierten Gemeinschaft zwischen Frau und Mann. Nur Dorotheas einziger Roman Florentin (1801) wurde bereits auf jenen intertextuellen Bezug (Stephan, "Weibliche und männliche Autorschaft") sowie auf Gattungsprobleme des Bildungsromans hin untersucht (Brandstädter/Jeorgakopulos). Weil sie außerhalb des Genres und als Marginalie innerhalb einer Mythenüberlieferung erzählt wird, hat man hingegen die höchst ungewöhnliche Bildungsgeschichte der Nynianne bislang überlesen.

Seitdem die Aufklärung das Glück des Menschen an den Gebrauch seiner Verstandeskräfte gebunden hat und spätestens seitdem die Darstellung einer sozial gerichteten Entfaltung aller persönlichen Anlagen zur Erzählgattung [End Page 221] geworden ist, steht zur Debatte, ob oder wie weit auch Frauen ihre geistigen Fähigkeiten vervollkommnen dürfen. Anhand zweier Romane, die einen Teil dieses Zeitraums bis Ende des 18. Jahrhunderts abdecken, Christian Fürchte-gott Gellerts Schwedische Gräfin von G*** (1750) und Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) der Sophie von La Roche, zeigt sich darüber hinaus beispielhaft, dass "Erziehung, Bildung und das Liebeskonzept" die Themenfelder sind, auf denen "zuallererst der Kampf um die neuen Identitäten von Männern und Frauen geführt wird" (Maier 287). In dieser Zusammenstellung zeichnet sich schon ab, weshalb die Lehrer-Schülerin-Figuration des Merlin nicht nur auf ihre unmittelbare Zeitgenossenschaft befragt werden sollte, etwa als Entgegnung auf die Lucinde. Vielmehr geht der Text Dorothea Schlegels genau jene Punkte an, die trotz der kulturellen Neuerung der "weiblichen Gelehrsamkeit" (Bovenschen 81) kontrovers geblieben sind. Er verhält sich ferner kritisch dazu, dass Friedrich Schlegel für die Romantik ein Glücksversprechen abgegeben hat, indem er das noch weitgehend uneingelöste Prinzip der Egalität in eine dynamische Vermittlung der Geschlechter vor dem Horizont androgyner Einheit umgestaltet. Als nicht-literarische Bilanz der Auseinandersetzung um die gebildete Frau steht die Abhandlung von Amalie Holst Über die Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung (1802) zeitlich und thematisch neben der Nynianne-Dichtung. Es wird sich jedoch nachweisen lassen, dass jenes unbenommen fortschrittliche Traktat noch in die diskursive Anordnung des 18. Jahrhunderts gehört, während der weibliche Lehrling in Schlegels Merlin-Bearbeitung die mythisierten Geschlechterkämpfe der Folgeepochen vorzeitig austrägt. Sowohl die Kontinuität des Wissens als auch dessen Umbruch nehmen hier Konturen an, vergleicht man den fiktionalen "Handlungsspielraum" (Frindte/Westphal), den die literarische Figur Nynianne sich verschafft, mit den historisch umstrittenen Grenzen einer weiblichen Gelehrsamkeit im Einzelnen.

Was eine Frau lernt, ist auch im Jahrhundert der Aufklärung durch die Festlegung auf ihre soziale Funktion als Gattin, Mutter und Hausfrau bestimmt; die wenigen Ausnahmen müssen sich gegenüber dem Ideal der herrschenden Geschlechtermodelle rechtfertigen. Insofern zielt Holst weit über die Meinung vieler männlicher Autoren hinaus, wenn sie das Recht nicht nur auf höhere, sondern auf höchste Geistesbildung fordert...

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