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  • Zur Antinomie von "weiblichem" und "männlichem" Glück in Lessings Minna von Barnhelm
  • Martin Blawid (bio)

Der Begriff des Glücks wird im Laufe des 18. Jahrhunderts wiederholt in Konversationslexika und Wörterbüchern des deutschen Sprachraums definiert. Einer dieser Definitionsansätze wird der folgenden Untersuchung zugrunde gelegt. Im Jahre 1735 erscheint in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigen Universallexicon der im Anschluss zitierte Eintrag unter dem Stichwort "Glück":

Glück, ist der ganze Zusammenhang derer bey denen menschlichen Unternehmungen mit beylauffenden natürlichen Umständen und Neben-Ursachen, die sich begeben, und nicht begeben können, und zwar beydes ohne unser willkührliches Zuthun, mit dem Verlauffe unserer Thaten, in welchem sie einen unseren Absichten entweder gemässen oder entgegen lauffenden Einfluß haben. Im ersten Fall nennen wir es ein gutes oder günstiges; im andern Fall ein wiedriges Glück oder Unglück.

(1701)

Zedlers Definition weist gutes "Glück" und "Unglück" demnach als zwei Ausprägungsformen eines übergeordneten Glückskonzeptes aus; sie sind — wie die Linguistik lehrt — durch Kohyponymie miteinander verbunden. Das Kriterium für den Unterschied macht Zedlers Lexikon an dem Verhältnis fest, das zwischen dem "Verlauffe der Thaten" und den "Absichten" besteht. Bei weitestgehender Übereinstimmung beider Kategorien ergebe sich "gutes Glück," bei Abweichungen entstehe "Unglück." In Zedlers Lexikoneintrag wird der enge semantische Bezug zwischen Glück und Unglück in den epistemologischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts sehr anschaulich verdeutlicht. Dass der schmale Grat zwischen Glück und Unglück allerdings auch in fiktionalen Texten des vergleichbaren Entstehungszeitraumes reflektiert wird, kann an folgendem Beispiel gezeigt werden.

Gotthold Ephraim Lessings 1767 vollendeter Text Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück enthält im fünften Akt folgende Schlüsselszene (V, 2), in der der Major von Tellheim seine eigene und die Situation seiner Verlobten Minna in der Figurenrede reflektiert: "[V. TELLHEIM]: Wie ist mir? — Meine ganze Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eignes Unglück schlug mich nieder; [End Page 141] machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig: ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen" (91). Bekanntlich strebt Minna nach einer dauerhaften amourösen Verbindung mit Tellheim, in der sie ihr individuelles Glück zu finden hofft. Tellheim sträubt sich bis zu der zuvor zitierten Textstelle dagegen, was dazu führt, dass das durch Minna angestrebte "weibliche Glück" zunächst im Widerspruch zu Tellheims Plänen steht. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte besonders interessant. Zum einen die Tatsache, dass Tellheim sein eigenes Schicksal sehr stark extern, und genauer: von der Situation Minnas ableitet, wobei er in V,2 das plötzliche Unglück seiner Verlobten paradoxerweise zum Anlass nimmt, "wieder frei um sich zu sehen" und damit Hoffnung zu schöpfen. Zum anderen lenkt die Figurenrede die Aufmerksamkeit auf die Bindung eines "männlichen Glücksempfindens" an ein "weibliches Unglück." Die Schlussfolgerung, zu der Tellheim in dem zitierten Abschnitt kommt, hat die Lessing-Forschung wiederholt beschäftigt: Weshalb gelangt Tellheim erst durch das vermeintliche Unglück seiner Partnerin zum eigenen Glück? Die Frage kann auch aus umgekehrter Perspektive gestellt werden: Warum verhindert das Glücksbestreben Minnas ein Glücksempfinden Tellheims so lange, bis es aus seiner Sicht ausbleibt. Zum Thema "Glück" in der Lessing-Forschung und insbesondere in Minna von Barnhelm vergleiche man Beatrice Wehrli (98-102) und Monika Fick (247-48); das körperliche Unglück eines versehrten Soldaten kommentieren Martin Kagel (22-27) und Wolfgang Schmale (196-200), während Peter Brenner "Glücksempfinden" im Zusammenhang mit dem "autonomen Subjektentwurf" untersucht (120-21).

"Weibliches" und "männliches" Glück bilden — so die erste Ausgangsthese vorliegender Analyse — zwei entgegengesetzte Kräfte in Lessings Text, d.h. eine antinomische Grundkonstellation. Dabei bleibt zu hinterfragen, welche Motive dieser Opposition, die die Handlung wesentlich beeinflusst, zugrunde liegen. Wenn Minnas Ziel in einer dauerhaften Verbindung mit Tellheim besteht, gegen die sich der Major jedoch bis zum Ende hartnäckig wehrt, dann legitimiert der Handlungsverlauf folgende zweite Ausgangsthese: Minnas "weibliches Glück" ist wesentlich von Tellheims männlichem Dominanzbestreben abhängig. "Weibliches Glück" als Ergebnis eines männlichen Dominanzproblems...

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