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  • Verlaufen. Perfectibilité in J. M. R. Lenz’ Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung
  • Andrea Krauß (bio)

Das 1774 anonym erschienene Schauspiel Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie situiert sich in einer bemerkenswerten Relation: Im Paratext korrespondiert die Bezeichnung eines bestimmten Berufstandes bzw. Status mit der Parteinahme für diesen Stand respektive dasjenige, wofür er im pragmatischen Vollzug steht. Man könnte entsprechend sagen: Der Titel benennt in enger Verschränkung Institution und Argumentation, er spricht mit anderen Worten von nicht-diskursiven und diskursiven Praktiken, indiziert hinsichtlich einer (um 1770 zunehmend disziplinär ausdifferenzierten)1 Erziehungsfrage die epistemische Einschreibung im umfassenden Sinn. Vom Titel einer argumentierenden Abhandlung unterscheidet sich der vorliegende allein durch einen doppelt gezogenen Strich. Unterm Strich steht im Faksimile des Deckblatts: Eine Komödie. Hier identifiziert sich das Folgende als (komische) Dichtung (und lässt ahnen, der thesenhaft formulierte Titel könnte ironisch gemeint sein), ohne den Umbruch der Schreibweisen deshalb zu nivellieren. In eine gemeinsame und unterschiedene Anordnung treten vielmehr (pädagogisches) Traktat und Literatur. Der Möglichkeitssinn von Literatur reflektiert sich so gesehen an der Frage, wie epistemische und literarische Produktivität [End Page 571] zueinander stehen, was Stellung im Schnittpunkt bestimmter Operationen und möglicher Bestimmungen heißen könnte.

Läuffers Konstellation I

Die erste Szene des Dramas exponiert die avisierte Problemstellung unter einem bestimmten Gesichtspunkt. „Läuffer,“ so der Name der zunächst funktionsspezifischen Titelfigur, präsentiert sich in einem längeren Monolog als Charakter, der im väterlich autorisierten Gefüge möglicher Berufe keine (An-)Stellung zu erlangen vermag. Sein ‚Name,‘ von einem „Läufer“ nur im Schriftbild unterschieden, ist in diesem Sinne sprechend: Ob buchstäblich als Flüchtender, der im Drama wiederholt vor aufgebrachten Vaterinstanzen davonläuft („Läuffer läuft fort.“),2 ob als zu Fuß laufender „botenläufer“ oder repräsentativer „diener in besonderer kleidung, welcher der Kutsche vorauf läuft,“ wie die Grimms informieren,3 ob schließlich als „läufer im schachspiele, franz. fou, ein stein der zunächst an den könig und die königin gestellt wird, überzwerch der felder läuft und immer auf einer farbe bleibt4—ein Läuf(f) er kommt nicht zum Stand. Und wo er läuft, da wählt er, wenigstens im Schachspiel, das schräg Liegende, die Diagonale.

Läuffer: Mein Vater sagt: ich sei nicht tauglich zum Adjunkt. Ich glaube, der Fehler liegt in seinem Beutel; er will keinen bezahlen. Zum Pfaffen bin ich auch zu jung, zu gut gewachsen, habe zu viel Welt gesehn, und bei der Stadtschule hat mich der Geheime Rat nicht annehmen wollen. Mag’s! er ist ein Pedant und dem ist freilich der Teufel selber nicht gelehrt genug. Im halben Jahr hätt ich doch wieder eingeholt, was ich von der Schule mitgebracht, und dann wär ich für einen Klassenpräzeptor noch immer viel zu gelehrt gewesen, aber der Herr Geheime Rat muß das Ding besser verstehen. Er nennt mich immer nur Monsieur Läuffer, und wenn wir von Leipzig sprechen, fragt er nach Händels Kuchengarten und Richters Kaffeehaus, ich weiß nicht: soll das Satire sein, oder – Ich hab ihn doch mit unserm Konrektor bisweilen tiefsinnig genug diskurieren hören; er sieht mich vermutlich nicht für voll an. – Da kommt er eben mit dem Major; ich weiß nicht, ich scheu ihn ärger als den Teufel. Der Kerl hat etwas in seinem Gesicht, das mir unerträglich ist. Geht dem Geheimen Rat und dem Major mit viel freundlichen Scharrfüßen vorbei.5 [End Page 572]

Hinsichtlich des Standes ist interessant, dass hier ein „Academicus6 inmitten einer Konstellation denkbarer beruflicher (Um-)Besetzungen spricht; inmitten einer Konstellation, die sich im kritischen Moment der Bestimmbarkeit befindet, sofern sie nämlich offen stehende Möglichkeiten und deren Begrenzungen vor Augen führt. Das ließe sich sozialgeschichtlich begründen. Läuffer, als Absolvent einer Universität („Leipzig“), der als Sohn eines Stadtpredigers vermutlich Theologie studiert hat, ist damit um 1770, dem fiktiven Zeitraum des dramatischen Geschehens im Hofmeister, „nur ständisch festgelegt, keineswegs aber beruflich. Der Theologe kann, vorübergehend oder dauernd, auch Schulmann werden.“7 Akademiker insgesamt, Vertreter also des „gelehrten Stand[es...

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