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MATHIAS MAYER Liebende haben Thränen und Dichter Rhythmen: Natur und Kunst in Goethes "Euphrosyne" Für Rudolf Hirsch in Dankbarkeit. In der "Euphrosyne "-Elegie von 1797/98 kreuzen sich zahlreiche Lebenslinien Goethes: Autobiographische Erfahrungen—wie die väterliche Liebe zu der frühverstorbenen Christiane Becker und Goethes eigene Tätigkeit am Hoftheater, aber auch die aktuelle Reise in die Schweiz (im Herbst 1797) — durchdringen sich mit sowohl kunstkritischen Momenten, wenn es um die Begegnung mit der Antike einerseits, mit Shakespeare andererseits geht, als auch mit Fragen kunsttheoretischer Art. Dabei klingt die "moderne"1 Welt von Wilhelm Meisters Lehrjahre in der Theaterdarstellung ebenso nach wie die klassische Sprachform vonHermann undDorothea oder der Achilleis spürbar ist. Goethes dichterisches "Monument für die Beckern"2 wird dabei von einer Reflexion auf Leben und Tod zu einer Auseinandersetzung von Natur und Kunst, zu einem Baustein von Goethes Poetik. Goethe selbst war "diesem kleinen Gedicht sehr mit Freundschaft zugethan," denn hier traf "glücklicherweise zusammen daß das Poetische durchaus auf dem Wirklichen ruht, und dieses doch nichts für sich selbst gilt, sondern erst dadurch etwas wird daß es als Folie durch den poetischen Körper durchscheint ."^ Der Zusammenhang von realem Erlebnis und poetischer Gestaltung dient aber nicht nur der Zuordnung der "Euphrosyne" unter Goethes Gelegenheitsgedichte , sondern läßt diese Elegie auch lesbar werden vor und aus dem Hintergrund der 1797/98 mit allem (auch polemischen) Einsatz geführten Auseinandersetzung Goethes mit dem Unterschied von Natur und Kunst, von Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit: Oie Diskussionen in "Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke" von 1797, in der Studie "Über Laokoon, " in der "Einleitung in die Propyläen" und in "Diderots Versuch über die Malerei" rücken das Verhältnis von Natur und Kunst in den Vordergrund der ästhetischen Bemühungen und lassen es über den Bereich der bildenden 146 Mathias Mayer Kunst hinaus auch in der Dichtung Gestalt annehmen, sprach Goethe doch selbst "Euphrosyne" als "eine freundliche Natur- und Kunstblume" an.4 Dieser Zusammenhang bildet die Voraussetzung für die folgenden Überlegungen.5 Bekannt sind der biographische Hintergrund und die Entstehung des Gedichts: Als Goethe im September 1797 in der Schweiz war, erreichte ihn dort die Nachricht vom Tod der neunzehnjährigen Christiane Becker, um die er sich vor allem seit dem Tod ihres Vaters (1791) gekümmert hatte: "er hinterließ uns eine vierzehnjährige Tochter, das liebenswürdigste, natürlichste Talent, das mich um Ausbildung anflehte."6 Der Brief an Böttiger vom 25. Oktober 1797 scheint den Entschluß zu einem "Trauergedicht"7 zu bezeichnen : Denn ich leugne nicht, daß der Tod der Becker mir sehr schmerzlich war. Sie war mir in mehr als Einem Sinne lieb. Wenn sich manchmal in mir die abgestorbne Lust für's Theater zu arbeiten wieder regte, so hatte ich sie gewiß vor Augen, und meine Mädchen und Frauen bildeten sich nach ihr und ihren Eigenschaften. Es kann größere Talente geben, aber für mich kein anmuthigeres . Die Nachricht von ihrem Tode hatte ich lange erwartet, sie überraschte mich in den formlosen Gebirgen. Liebende haben Thränen und Dichter Rhythmen zur Ehre der Todten, ich wünschte, daß mir etwas zu ihrem Andenken gelänge.8 Am 23. März 1798 schrieb Goethe dann an J.H. Meyer: Denken Sie doch auch gelegentlich an das Monument für die Beckern, ich will indessen die Elegie die ich ihr gelobt habe auch auszuarbeiten suchend Beendet war das Gedicht am 12./13. Juni 1798,10 erschienen ist es erstmals in Schillers "Musenalmanach für das Jahr 1799·"11 Der Inhalt des Gedichts — die vom Dichter-Wanderer angesprochene Erscheinung erinnert ihn an ihre frühere Begegnung und bittet um eine dichterische Gestaltung — ist nicht schwer zu erkennen: "Ohne Mühe errät man alle Details aus dem Gedicht selber."12 Dagegen ergibt sich das eigentliche Thema, das über das Biographische hinausgeht, am deutlichsten aus dem Aufbau des Gedichts, das sich in drei große Abschnitte gliedert: Den ausführlichen Hauptteil bildet die Rede Euphrosynes, die eingerahmt wird von zwei kürzeren Passagen in denen der Dichter-Wanderer selbst spricht. Im einzelnen zeigt sich dann doch eine recht komplizierte Gliederung: Goethe Yearbook 147 V 1-8 Natureingang. Der Dichter-Wanderer...

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