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  • Author Interview: Zafer Şenocak im Gespräch
  • Elke Segelcke (bio)

1. Einleitung

Der deutsche Autor türkischer Herkunft Zafer Şenocak (geb. 1961) bezeichnet sich selbst als Wanderer zwischen den Welten, der in beiden Sprachen und Kulturen Zuhause ist. Seine häufig im Themenbereich Orient-Okzident angesiedelten transnationalen Werke werden international rezipiert und gehören inzwischen vor allem in den USA zum festen Bestandteil der German und Cultural Studies. Seit seinem Debüt als Lyriker in den 1980er Jahren hat er neben Übersetzungen aus dem Türkischen eine Reihe von Essaybänden und Romanen veröffentlicht. Zu seinen neuesten lyrischen Werken gehören die im Babel Verlag in Zusammenarbeit mit Berkan Karpat entstandenen Gedichtbände Futuristen-Epilog: Poeme und Landstimmung: Neue Gedichte von 2008. Dabei handelt es sich um postmoderne Texte, die im ersten Band mit modernistischen Utopien in Verbindung mit der geschichtlichen Endzeitstimmung der 1990er Jahre spielen, und im zweiten Band mit Bruchstücken des deutschen Geschichtsmythos im Zusammenhang mit einer Reise gen Osten, die in einen multinationalen Landschaftsraum führt. Während er seine Prosa bisher auf Deutsch schrieb, zeugen seine beiden letzten auf Türkisch verfassten Romane von einer neuen translingualen Praxis und der thematischen Fortsetzung geschichtlicher Ost-West Verknüpfungen, unter anderem auch in Reaktion auf die derzeitige Nationalismus- und Identitätsdebatte in der Türkei. Der Musiker- und Künstlerroman Der Pavillon ist im Juli 2009 auf Deutsch erschienen in der Übersetzung von Helga Dagyeli-Bohne und Yildirim Dagyeli, die auch den im Zweiten Weltkrieg spielenden Geschichtsroman (Ostwärts) übersetzen, der 2010 erscheinen soll.

Dieses Interview wurde im Juli 2009 in Berlin geführt und erscheint hier in ungekürzter Fassung im Einverständnis mit dem Autor. Mit Genehmigung von Seminar erschienen vorab kurze Auszüge in TRANSIT in Verbindung mit einer Video-Konferenz (vol. 5, No 1, October 2009, Article #14blg3dt, < http://escholarship.org/uc/item/14blg3dt >) und in German Quarterly (vol. 83, No. 1, January 2010). [End Page 71]

2. Neo-Osmanismus, Europapolitik und muslimisch-nationalstaatliche Entwicklungen in der Türkei

Elke Segelcke (ES): Herr Şenocak, derzeit taucht in den westlichen Medien der Begriff des “Neo-Osmanismus” auf, mit dem angesichts der Erweiterungsmüdigkeit der EU sowie der Beitrittsmüdigkeit der Türkei und ihrer Frustration über Europa der neue Kurs Ankaras beschrieben wird, das dabei ist, seine Einflusssphäre vom Balkan bis zum Kaukasus zu erweitern und bereits zu einem respektierten Vermittler zwischen den unterschiedlichen Parteien im Nahen Osten und Zentralasien geworden ist. Es scheint zwischenzeitlich sogar zu einer Annäherung zwischen der Türkei und Armenien gekommen zu sein, die an der Herstellung diplomatischer Beziehungen und an einer Öffnung ihrer Grenzen arbeiten. Andererseits kommen die Verhandlungen mit der EU kaum voran. Die Türkei wird von der EU-Kommission aufgrund mangelnder Reformfortschritte kritisiert und das neue EU-Parlament ist voller Europa-Skeptiker, gerade auch hinsichtlich einer türkischen EU-Mitgliedschaft. Welche Auswirkungen hat Ihrer Meinung nach diese Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik auf die Europapolitik der Türkei? Braucht Europa vielleicht die Türkei mehr denn je aufgrund ihrer wachsenden strategischen Bedeutung, während die Türkei die EU immer weniger braucht und sich kulturell eher ihren Nachbarn zugehörig fühlt? Wie sehen Sie die derzeitigen Chancen für einen Türkei-Beitritt, und welche Folgen könnte ein Scheitern des Beitritts für die Türkei und auch für die EU letztlich haben?

Zafer Şenocak (ZŞ): Also die Türkei befindet sich ja schon seit den 80er Jahren in einem Transformationsprozess. Und zwar sind die Folgen, die jetzt in der Außenpolitik sichtbar sind, angelegt in geistigen, mentalen Veränderungen, die schon in den Diskussionen der Türkei stattgefunden haben und sichtbar wurden in den 80er, 90er Jahren. Einmal eine große Identitätsdebatte: die Türkei als europäisches Land mit all diesen Besonderheiten, die durch die Geografie und die Geschichte definiert sind. Das heißt, ein Land, aufgehängt zwischen dem Balkan, dem Kaukasus und dem Nahen Osten, und natürlich immer mit der Landkarte des Osmanischen Reiches im Hintergrund. Und die türkische Republik wurde ja auf einer großen Bruchlinie gegründet, also man hatte sozusagen einen Bruch gegenüber der Geschichte durchgeführt...

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