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Reviewed by:
  • Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur
  • Hans Rudolf Vaget
Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. Von Philipp Gut. Frankfurt: Fischer, 2008. 444 Seiten. €22,90.

Das vorliegende Buch—eine in Zürich bei Urs Bitterli entstandene Dissertation—ist als die wohl anregendste Studie zum politischen Thomas Mann anzusehen seit Kurt Sontheimers bahnbrechender Arbeit von 1961: Thomas Mann und die Deutschen. Philipp Gut hält sich nicht lange dabei auf, die Mär vom unpolitischen Thomas Mann zu widerlegen und rückt mit dem unaufgeregten Gestus des Schweizers und mit gelassen abwägendem Blick die Idee einer deutschen Kultur in den Mittelpunkt seiner Argumentation. So vermag er zu zeigen, dass Manns Leistung als "politischer Denker" (271) gerade darin bestand, die politischen Implikationen unserer Vorstellung von Kultur zu bedenken und in leicht fasslicher Form darzulegen.

Gut geht von den Fragmenten zu Geist und Kunst aus und verfolgt bis zum Doktor Faustus und darüber hinaus, wie Thomas Mann im Lichte historischer Erfahrung seinen Begriff von Kultur wiederholt revidiert und präzisiert hat. Vertrat er anfangs die von Nietzsche ausgehende schroffe Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, so nahm er im Zuge der politischen Umorientierung nach dem Ersten Weltkrieg die Ideale der westlichen Zivilisation in seinen Kulturbegriff auf, um sich während der [End Page 130] Herrschaft des Nationalsozialismus, als im Namen der deutschen Kultur eine Rebarbarisierung gefordert und praktiziert wurde, als militanter Anwalt der Zivilisation zu begreifen. Gut erhellt sehr schön den zögerlichen und tastenden Sinneswandel, der Thomas Manns Bekenntnis zur Republik vorausging. Und er argumentiert, Manns Bedeutung bestehe in der "schonungslosen Kritik dessen [ . . . ], was ihm am liebsten war: der deutschen Kultur." Gerade auf Grund dieses selbstkritischen Nachdenkens über Deutschland und seine Kultur sei er zum "wichtigsten intellektuellen Gegenspieler Adolf Hitlers" (19) geworden. Dabei stellte er den vermeintlich unpolitischen Charakter von Kultur als einen der Hauptgründe für die politischen Irrgänge Deutschlands heraus. Für Gut erweisen sich somit die politischen Schriften Thomas Manns als das denkwürdigste "Projekt einer Selbstaufklärung der deutschen Kultur" (381) im zwanzigsten Jahrhundert.

Besondere Erwähnung verdienen Guts Erläuterungen zu den Gedanken im Kriege. Er arbeitet die "reaktive Tendenz" (76) der ersten Kriegsschriften heraus, indem er auf den beiderseitigen "Krieg der Worte" verweist, der in vielen Punkten die kulturkriegerische Begleitmusik von 1870–1871 neu anstimmte. Im Nachhinein gewinnt Gut auch den Kriegsschriften wie der ganzen konservativen Phase dieses Autors einen sowohl werkgeschichtlichen als auch historischen Sinn ab: "nur aufgrund seiner durch intime Vertrautheit bedingten Sensibilität für die Probleme einer politischen Romantik [ . . . ] war es ihm möglich, als einer der dezidiertesten und frühesten Warner vor jenem mythisch verklärten Deutschtum aufzutreten, das die Nationalsozialisten 1933 ins Werk setzten" (115). Erwähnenswert nicht zuletzt auch die These, mit den seiner Zeit sehr kontroversen Stellungnahmen nach 1945 habe sich Thomas Mann als einer der "geistigen Ahnherren des wiedervereinigten Landes" (381) erwiesen. Die brisante und immer noch offene Frage, welche Bedeutung Thomas Mann für die politische Kultur Nachkriegsdeutschlands hatte, wird hier nur stellenweise angedacht; sie wäre eine eigene Untersuchung wert.

Dieses Buch geht in doppelter Hinsicht über Sontheimer hinaus. Gut kann sich auf einen beträchtlich erweiterten Kenntnisstand und auf die Ergebnisse einer immer emsiger schürfenden Forschung stützen. Vor allem aber bezieht er die Romane und Erzählungen in seine Betrachtung ein. Während sich seine Ausführungen zum Zauberberg und zum Doktor Faustus in vertrauten Bahnen bewegen, verdienen vor allem die Bemerkungen zur politischen Bedeutung des Joseph sowie der Moses-Novelle Das Gesetz Beachtung. Gut liest die Joseph-Romane, in kritischer Auseinandersetzung mit Jan Assmann, als das monumentalste Zeugnis von Thomas Manns Arbeit an einem Kulturbegriff, der die Herausforderungen der Zeit reflektiert.

Dankenswerter Weise befleißigt sich Philipp Gut einer unprätentiösen Schreibweise. Sein Buch zeichnet sich auch dadurch aus, dass er als Germanist wie als Historiker ausgebildet ist. Er bezieht sich durchgehend auf die jüngste Literatur zu einem bestimmten historischen Thema, und er liefert knappe, treffende Überblicke etwa zu den beiden Kriegen. Seine literaturwissenschaftliche Kompetenz demonstriert er nicht nur in den Analysen der epischen Texte—merkwürdig jedoch, dass er Mario und der Zauberer auslässt—, sondern auch in vergleichenden Seitenblicken auf andere...

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