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MLN 117.3 (2002) 584-589



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Notizen zum Grundriß der Textkritik

Roland Reuß

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Die lange Geschichte, auf die die abendländische Textkritik zurückblicken kann, garantiert nicht schon von sich aus, daß die mit ihr einhergehenden Probleme (wie die Politiker so schön sagen: 'gelöst') hinter uns liegen oder ihr Begriff hinreichend trennscharf dargestellt wäre. Im Gegenteil. Eine zureichende Entfaltung dieses Begriffs, die auch den überlieferten poetischen Zeugnissen der Moderne gerecht zu werden vermöchte, ist, genau betrachtet, noch nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen; ein Versäumnis, das bei der vorherrschenden Begriffsblindheit, ja Begriffsphobie des Fachs vielleicht kein Wunder, gleichwohl aber kein zu verteidigender Zustand ist, soll die Literaturwissenschaft das Attribut der Wissenschaftlichkeit noch legitimerweise für sich reklamieren können.

Daß der Begriff der Textkritik unscharf, ihr Bereich unreflektiert geblieben ist, hat für die wissenschaftliche (und vermittelt über diese für jede) Beschäftigung mit dichterischen Texten erhebliche Folgen. Textkritik ist nicht eine unter verschiedenen gleichanfänglichen Verhaltensweisen zur literarischen Überlieferung. Sofern jede weitere Beschäftigung mit Literatur auf Produkte textkritischer Beschäftigung zurückgeht und zudem essentielle hermeneutische Operationen bereits in die Darstellung der überlieferten Zeugnisse und die Herstellung von Texten eingehen, ist Textkritik nicht ein regionaler Sonderbereich literaturwissenschaftlicher Arbeit neben weiteren, sondern deren unabdingbare und unvorgreifliche Voraussetzung: eigentliche Grundlagenforschung. Hier zunächst erweist sich, daß Literaturwissenschaft mehr und anderes ist, als die Applikation externer [End Page 584] (psychoanalytischer, strukturalistischer, dekonstruktivistischer, feministischer etc.) Modelle auf ein Stück (wie man sich das so gerne vorstellt) einfach vorliegenden Textes. Nichts ist es mit der prätendierten Naivetät (und nicht selten auch Dreistigkeit) derer, die meinen, es sei unnötig, Handschriften zu entziffern, sich in die Archive zu begeben, oder schon vor der einfachen Übung resignieren, sich in die Apparatdarstellung einer kritischen Ausgabe einzugewöhnen. Die Haltbarkeit wissenschaftlicher Produkte (wie übrigens jedes Produktes) ist nicht unabhängig davon, ab welcher Schwelle der Produzent beginnt, den Verlockungen der ignava ratio nachzugeben. Im Falle der Literaturwissenschaft dürfte das häufig anzutreffende Desinteresse, die manchmal sogar programmatische Ablehnung der Beschäftigung mit textkritischen Fragen sehr direkt dazu beitragen, daß die Halbwertszeit der Forschungsergebnisse sich in bescheidenen Grenzen hält. Die Interpretationen, die auf einen Text zurückgehen, der buchstäblich so nicht überliefert ist (den der Autor so nicht geschrieben hat), sind Legion. Einer möglichen Schamgeschichte des Fachs böten sie reiches Anschauungsmaterial.

Die Entfaltung eines gegliederten Begriffs von Textkritik erfordert—da neben dem Begriff der Kritik auch der des Textes davon betroffen ist—natürlich mehr Raum als im Rahmen eines Zeitschriftenbeitrags zur Verfügung steht. Ich kann daher an dieser Stelle nur so etwas wie einen ersten (im Wortsinn) Grundriß der Textkritik skizzieren. Wenn ich dabei mit der Beschreibung des konventionellen Vorverständnisses beginne, so vor allem deshalb, weil es mir darauf ankommt, dessen Grundannahmen problematisch werden zu lassen und dabei zugleich seine Motive in ein vielleicht angemesseneres Licht zu setzen.

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Traditionelle Textkritik denkt die kritische Tätigkeit von der Seite des Subjekts her. Der Kritiker ist jemand, der auf der Basis des wissenschaftlichen common sense (und diesen immerzu affirmierend) mithilfe scharfsinniger Analysen und zu begründender Urteile die Überlieferung in jene adäquate schriftliche Textform bringt, in der sie der Gegenwart begegnen kann. Die von ihm kritisch zu reflektierenden Gegenstände seiner Tätigkeit sind dabei (a) die Textualität (handelt es sich überhaupt um einen Text, nicht nur um Gekritzel oder dergleichen? enthalten Entwurfshandschriften tatsächlich Texte? handelt es sich um einen, nicht um zwei, drei oder mehrere Texte?); (b) die Folge der immanenten Einheiten (gibt es Kapitel, Absätze etc.? [End Page 585] wie und wodurch sind diese zu bestimmen?); (c) die immanente Darstellung des Textes (liegt ein Prosa-, ein Dramen-, ein lyrischer Text oder eine Mischung der Genera vor?); (d) einzelne Wörter und Buchstaben des überlieferten Textes, sofern sie zweifelhaft sind (ist das, was an einer Stelle zu lesen ist, ein Druck-, ein Schreibfehler?); (e) verschiedene Instanzen eines und desselben Textes, sofern bei Vergleich sich Unterschiede ergeben (Kollation); (f) verschiedene Überlieferungsformen bei vermuteter oder unterstellter gleichgerichteter Textintention (recensio); (g) wahrscheinlich auch die interne Chronologie...

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