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  • Werthers Leser
  • Bernhard J. Dotzler

Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wieder finde, bey dem’s zugeht wie um mich . . .

Berühmter Anfang eines berühmten, ja nach Maßgabe seiner Popularität wohl noch immer des Debüts deutscher Dichtung: “Wie froh bin ich, daß ich weg bin!” 1

Später verwandte Goethe gesetztere Anfänge. Zwar, um bei seinen Romanen zu bleiben, wurde aus dem konventionellen “Es war einige Tage vor dem Christabend [...]” von Wilhelm Meisters theatralischer Sendung neuerlich der unvermittelte Beginn der Lehrjahre: “Das Schauspiel dauerte sehr lange.” Aber Die Wahlverwandtschaften dann heben an: “Eduard—so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter—Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht [...].”

Hier ist kein Zweifel, daß ein Erzähler mit seiner Rede beginnt; daß man es mit einem formvollendeten Incipit zu tun hat, das zuerst die oder eine der Hauptfiguren vorstellt, um dann in die Romanwelt einzuführen wie der gleich darauf hinzutretende Gärtner in die Landschaft, in der das Geschehen spielt: “Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, über deren Turmspitze man fast hinwegsieht; gegenüber das Schloß und die Gärten.” [End Page 445]

Ganz anders Die Leiden des jungen Werthers—auch, wenn man den zweiten und dritten Satz, die ganze folgende Seite noch weiterliest. Zwar ist man vorgewarnt, indem eine (fingierte) Herausgebervorbemerkung von gesammelten, also bruchstückhaften Dokumenten “der Geschichte des armen Werthers” spricht. Der Effekt ist nichtsdestoweniger der eines Überfalls: “Wie froh bin ich, daß ich weg bin!” Man weiß nicht, um wen es sich handelt. Es muß eine Vorgeschichte gegeben haben, aber man kennt sie nicht. Keinerlei Hinweis verrät etwas über den Ort und die Umstände dessen, was weiter folgen wird. Damit erfüllt der Eröffnungssatz den Inhalt seiner Aussage zugleich am Akt des Aussagens selber. Er behauptet eine Abwesenheit (und nur sie, kein Wo wird positiv bestimmt, nur das “daß ich weg bin!” betont: die positive Aussage “Wie froh bin ich” unterstreicht ebendies), und er operiert über lauter Abwesenheiten. Er gibt mehr Rätsel auf, als er Antworten liefert. Er markiert, mit einem Wort, eine Leerstelle.

Diese Bezeichnung oder genauer: ihre Etablierung als Terminus technicus der Literaturwissenschaft geht zurück—und scheint auf den ersten Blick beschränkt—auf die Theorie der Rezeption von Literatur, namentlich ihre Konzipierung im (korrigierenden) Anschluß an Roman Ingardens Unbestimmtheitskonzept durch Wolfgang Iser. Dessen grundlegender Aufsatz über “Die Appellstruktur der Texte” 2 setzt seinerseits durchaus vielversprechend ein. Er beginnt mit einem Zitat von Susan Sontag: “In place of a hermeneutics we need an erotics of art.” Ob man daher der analytischen Durchleuchtung von Leerstellen viel abgewinnen mag oder nicht, in der Sache jedenfalls geht es um nicht weniger als: Die Lust am Text. 3

Dabei findet sich die Sache selbst (wenn man so naiv sagen darf) letztlich immer und überall, wie allein schon die rhetorischen Figuren der Auslassung und andere Formen der Ausdruckskürze, Brachylogie oder auch brevitas 4 belegen, die allesamt Lücken ins Satzgefüge schlagen. Daß also Texte dergestalt Leerstellen aufweisen, die erst [End Page 446] ihre LeserInnen (oder HörerInnen) ergänzen, ist keine Besonderheit, sondern der Regelfall. Dennoch handelt es sich um eine spezifische historische Formation: soweit es darum geht, Literatur aus der Warte des Lesers wahrzunehmen. Die Entdeckung, wenn nicht Erfindung, daß “Gedichte” (wie man einst für Dichtungen aller Art sagte) we-niger als “Schreiberprodukt,” sondern vielmehr als “Leserobjekt” zu untersuchen seien, ist noch nicht einmal ganz so alt wie Die Leiden des jungen Werthers; sie steht am Anfang jenes nach 1800 erst etablierten Wissens von Literatur, das sich in der Folge als die Disziplin einer Neueren deutschen Literaturgeschichte institutionalisieren sollte. 5

Damit betrifft die Frage der Leerstellen das Geschäft der Literaturwissenschaft als solcher. Auf deren Tagesordnung stehen längst andere als die orthodox-rezeptionsästhetischen Interessen—sei es, daß man im Stil der Systemtheorie von den “Unbestimmtheitsstellen” literarischer und anderer Kunstwerke her gerade nicht nach deren Wirkung auf ihre Rezipienten weiterfragt, um sie vielmehr zurückzubeziehen auf den Prozeß der Selbstkonstitution eines ausdifferenzierten Kunstsystems; 6 oder sei es, daß man das Allerlei verschiedenster medialer...

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