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Reviewed by:
  • Der literarische Nachlaß
  • Christoph Hoffmann (bio)
Robert Musil, Der literarische Nachlaß, Ed. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé, CD-ROM mit Handbuch und Erschließungsprogramm PEP, Reinbek: Rowohlt 1992.

Es ist Herbst 1941, seit mehr als zwei Jahren lebt Robert Musil in Genf. Im Arbeitszimmer des kleinen Hauses, Chemin des Clochettes 1, stapeln sich [End Page 663] in einem Büffet Papiere: Vorarbeiten und Varianten zu bereits veröffentlichten Texten, Exzerpte aus wissenschaftlichen Monographien und Zeitschriftenartikeln, Studienblätter und handschriftliche Entwürfe zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, viele mehrfach überarbeitet, und schließlich die Druckfahnen jener zwanzig Kapitel, mit denen 1937/38 der Roman weitergeführt werden sollte, die aber wieder zurückgezogen wurden.

Diese mehr als zehntausend Seiten, viele untereinander durch ein nurmehr dem Schriftsteller genau nachvollziehbares System von Siglen vernetzt, bilden den Arbeitsapparat, an dem Musil Tag für Tag schaltet. Alte Materialien werden neu arrangiert, frühere Pläne wieder aufgegriffen und bald darauf abermals verworfen, ganze Absätze im Manuskript gestrichen und mit feinem Bleistift Varianten daneben gestellt, ohne daß eine Entscheidung getroffen wird. Fortsetzung und Abschluß des Mann ohne Eigenschaften rücken in immer weitere Ferne. In dieser Situation überkommt Musil ein, man möchte sagen, absurder Gedanke: “Einfall: Ich bin der einzige Dichter, der keinen Nachlaß haben wird. Wüßte nicht wie”1. In der Tat, die Spanne zwischen Wunsch und Wirklichkeit könnte nicht größer sein.

Wenige Monate später, im April 1942, stirbt Musil. Die literarische Hinterlassenschaft wird von nun an sorgsam von Musils Ehefrau Martha gehütet, übersteht auch die Übersiedlung in die USA, kehrt, verpackt in eine Kiste und einen Koffer, nach Europa zurück, und findet schließlich 1947 im Hause des Sohnes Gaetano Marcovaldi in Rom eine neue Bleibe. Indes handelt es sich nur um ein Teil der Materialien, die der Schriftsteller über Jahrzehnte angehäuft hat. Eine große Zahl war 1938 in der Wiener Wohnung zurückgeblieben, als Musil Österreich nach dem Anschluß an das Dritte Reich verließ. Später werden diese Papiere bei einer Spedition eingelagert und zusammen mit der gesamten persönlichen Habe bei einem Luftangriff auf Wien am 12. März 1945 vernichtet. Die Streuung eines amerikanischen Bombenteppichs sorgt dafür, daß die Spuren von Musils Leben endgültig getilgt werden. Über bleibt nur eine Inventarliste der Wohnung, die Ausgaben der zu Lebzeiten gedruckten Texte und abertausende, dichtbeschriebene Seiten, fast alle auf den unvollendet gebliebenen Mann ohne Eigenschaften bezogen. Wen wundert es also, daß diese Manuskripte bald zum Gegenstand mannigfaltiger Spekulationen avancieren.

Als Adolf Frisé 1951 zum ersten Mal vor den Papieren steht, meint er, daß darin schnell die “innere Ordnung” und damit die letzte Wendung, die der Roman nach dem Willen des Autors hätte nehmen sollen, zu finden sein müßte (S.12) 2. Der spätere Herausgeber von Musils Werken und Doyen der Musil-Forschung irrte sich. Die erste Neuausgabe des Mann ohne Eigenschaften, von Frisé 1952 besorgt, verschreibt sich noch ganz der Idee, einen kohärenten Text auch unter Einbezug des Nachlaßmaterials zu bieten. Das [End Page 664] führt zu editorischen Entscheidungen, die über mehr als zwanzig Jahre Anlaß heftiger, teilweise auch berechtigter Vorwürfe werden. Doch täuschten sich auch Frisés Kritiker—hier wären an erster Stelle Ernst Kaiser und Eithne Wilkins zu nennen—als sie nun ihrerseits in zahlreichen Beiträgen Mutmaßungen über die Anordnung der Nachlaßtexte und damit selbstredend über Musils Intentionen anstellten 3. Je länger die Diskussion über den geplanten weiteren Verlauf der Romanhandlung andauerte, desto mehr wurde deutlich, daß sich das Gefüge der Nachlaßtexte gegen jede finale Aussage äußerst widerspenstig verhält.

An die Stelle des hohen Tones, der die Debatten zuvor beherrscht, tritt in den siebziger Jahren in der Musil-Forschung vielerorts das nüchterne Vorhaben, zunächst die Auseinandersetzung mit Musils Nachlaß auf eine sichere editorische Grundlage zu stellen. Zu der Tendenzwende dürfte die Tatsache beigetragen haben, daß die Papiere von Musils Erben, bis dahin nur wenigen Forschern zugänglich, 1973 in den Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien übergehen. Erstes Ergebnis verschiedener Projekte zur Werk- und Nachlaßerschließung ist die von der Wiener...

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