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  • Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie
  • Konstanze Baron (bio)
Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie. Bielefeld: Transcript, 2005. 393 pages.

Vor dem Hintergrund postmoderner Auflösungstendenzen und der Infragestellung des Subjekts durch Sprachphilosophie und Psychoanalyse ist es in letzter Zeit zu einer gewissen Orientierungslosigkeit in eben jenen philosophischen Teil-Disziplinen gekommen, die sich mit der normativen Ausrichtung menschlichen Lebens befassen: gemeint sind Ethik und Sozialphilosophie. Die Frage, was ein gutes Leben ist, bzw. wie wir leben wollen und was wir von uns selbst und unserer Gesellschaft dafür verlangen können, musste ohne einen soliden subjekttheoretischen Maßstab unbeantwortbar, ja nahezu deplatziert erscheinen. Stattdessen gab man sich damit zufrieden, im Sinne eines liberalen „laissez-faire" dem Pluralismus der Werte und der Lebensentwürfe das Wort zu reden und dem Einzelnen die mal mehr, mal weniger erratische Ausgestaltung seiner „patchwork-identity" anheimzustellen.

Gegen diese normative Beliebigkeit wendet sich Arnd Pollmann in seinem Buch „Integrität: Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie." Mit dem Begriff der Integrität verbindet Pollmann die Annahme einer „ethisch-existenziellen Grundbefindlichkeit des Menschen, die man als den Wunsch nach Ganzheit im Sinne eines intakten und unversehrten Selbst-und Weltverhältnisses zu beschreiben hätte." (73) Die Vorstellung von einem „intakten ethisch-existenziellen Lebenszusammenhang" liegt Pollmann zufolge diversen kritischen Gesellschaftsheorien zugrunde (Kap. 1), ohne von diesen jedoch inhaltlich näher ausgewiesen zu werden. Ziel seiner Untersuchung ist es daher, dieser Vorstellung deutlichere Konturen zu verleihen. Dabei soll eine Konzeption guten oder gelingenden Lebens zum Vorschein kommen, die einerseits ausreichend substanziell ist, um gehaltvolle Aussagen über die unverzichtbaren Grundgüter menschlichen Lebens zu ermöglichen, die aber zugleich ausreichend vage ist, um der Freiheit der Individuen Rechnung zu tragen und nicht in paternalistische Bevormundung auszuarten. Die Integrität als Ideal einer post-postmodernen Sozialphilosophie ist somit eine durchaus prekäre Angelegenheit: ein von der Gesellschaft zwar zu schützendes, aber nicht schon bereitzustellendes Gut, sowie eine vom Einzelnen im Angesicht vielfältiger Widerstände und Gefahren stets aufs Neue zu vollbringende Aufgabe.

Der Kern des Buches (Kapitel 2–5) ist der philosophischen Begriffsanalyse [End Page 665] gewidmet. Unter Einbeziehung der alltagssprachlichen Verwendungsweisen wird der Integritätsbegriff hier auf seine unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen hin befragt und zu einer schlüssigen Gesamtkonzeption verarbeitet. In Kapitel 2 sichtet und systematisiert Pollmann die—überaus dürftigen—vorhandenen philosophischen Beiträge zum Begriff der Integrität. Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Integriertheit und Ganzheit entpuppen sich als die zentralen Hinsichten integeren Lebens, die zugleich unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und Interessenlagen (ethisch, moralisch, psychologisch, sozialphilosophisch) entsprechen. Ein Unterkapitel ist der „etymologischen Spurenlese" gewidmet und soll einen ersten Nachweis erbringen, dass es sich hierbei tatsächlich um Bedeutungsaspekte ein und derselben Konzeption und nicht um vier ganz unterschiedliche Begriffe von Integrität handelt.

Die beiden folgenden Abschnitte (Kap. 3 und 4) machen es sich zur Aufgabe, diesen etymologischen Nachweis systematisch zu verdichten und so etwas wie den „Wesenskern der Integritätsidee" freizulegen. Dabei entsteht ein anspruchsvolles Bild personaler Integrität, das ein intaktes Selbstverhältnis ebenso wie integere Sozialbeziehungen umfasst. Kapitel 3 stellt die Integrität zunächst als ein „schwieriges Selbstverhältnis" dar. Hier werden die charakterlichen Voraussetzungen integeren Lebens untersucht (feste Wertbindungen, die im Zuge einer unverstellten autobionarrativen Selbstverständigung hinreichend begründet werden können, sowie eine gewisse Beherztheit bei deren Umsetzung) und die entsprechenden Integritätsmängel Konfliktscheue, Willensschwäche und Selbsttäuschung benannt. Doch reicht es laut Pollmann nicht aus, die Integrität als ein wie auch immer schwieriges Selbstverhältnis zu betrachten. Personale Integrität beruht vielmehr auf ganz konkreten sozialen Voraussetzungen, die sich dem Zugriff des Individuums entziehen. Während das 3. Kapitel also vor allem dazu dient, den Eigenbeitrag der Individuen zu ihrer Integrität zu erhellen, richtet das 4. Kapitel das Augenmerk auf jene Dimension der Integrität, die Pollmann zufolge als „schwieriges Verhältnis zu Anderen" bezeichnet werden muss. Hierbei wird deutlich, dass soziale Beziehungen zwar einerseits eine unverzichtbare Bedingung für die Ausbildung eines intakten Selbstverhältnisses darstellen, dabei gleichzeitig jedoch den Schauplatz vielfältiger Integritätsverletzungen bilden. Der Mensch, so zeigt sich hier, ist nicht nur auf existenzielle Schonung durch seine Mitmenschen, sondern auf vielfältige Weise auch auf deren Anerkennung in Liebes-, Fürsorge- und...

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