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  • Von der Kunst als "Überlebenskunst" zur Kunst des Lebens:Über Thomas Bernhards Der Theatermacher und Alte Meister
  • Stephan Atzert

Alte Meister erschien 1985, im Jahr der Uraufführung von Der Theatermacher. Es handelt sich bei Alte Meister um den letzten von Thomas Bernhard vor seinem Tod für die Veröffentlichung geschriebenen Prosatext, denn Aus-löschung, obwohl erst 1986 veröffentlicht, entstand schon 1981 (Weinzierl 459). Damit gehört Alte Meister neben Der Untergeher (1983) und Holzfällen (1984) zu denjenigen Texten, in denen es "um die Folgen übertriebener Perfektionsansprüche im Bereich des Lebens bzw. dem der Kunst geht" (Mittermayer 120). Auch in dem Drama Der Theatermacher wird das klägliche Scheitern an diesem Anspruch dargestellt. Das Stück parodiert, radikaler als im thematisch ähnlichen, früheren Die Macht der Gewohnheit (1974), volkstheaterhaft die Perfektions- und Machtansprüche des selbsternannten Genies Bruscon. Ein Hinweis darauf, dass sich Alte Meister und Der Theatermacher interpretatorisch komplementieren, ist die Verwendung des Namens "Irrsi(e)gler." Dass diese Namenssetzung eine bewusste Anspielung ist, geht aus folgender Aussage Bruscons hervor: "Ich hatte nämlich / eine österreichische Urgroßmutter / müssen Sie wissen / eine Urgroßmutter Irr-siegler / Aber das sagt Ihnen nichts" (Der Theatermacher 32). Natürlich be-deutet es dem Wirt des "Schwarzen Herzens" zu Utzbach nichts, aber es ist der Name des Saalwärters Irrsigler in Alte Meister. Offensichtlicher ist die beiden Texten gemeinsame Auseinandersetzung ihrer Protagonisten mit den Schwächen verschiedener Kunstformen, wobei Fragen der Repräsentation eine zentrale Rolle einnehmen. Andererseits verkörpern Bruscon und Reger, der Protagonist von Alte Meister, stark unterschiedliche Geistesverfassungen, was sich am deutlichsten darin zeigt, dass in Alte Meister eine individuelle Leidensbefreiung zum Tragen kommt, die Parallelen zu Schopenhauers Meta-physik bzw. zur indischen Mystik aufweist. Darin geht Reger in Alte Meister über die Auseinandersetzung mit der Kunst hinaus und gelangt zu einer Kunst [End Page 155] des Lebens. Dieser Aspekt von Alte Meister wurde in der Forschung bislang vernachlässigt.

In der folgenden Interpretation dient der Vergleich der Texte dazu, ihren jeweiligen Bedeutungshorizont bezüglich genannter Aspekte genauer zu be-stimmen. Zur Erläuterung werden dabei auch Passagen aus Auslöschung zu den Themen von Repräsentation und Philosophie herangezogen. Der intertextuelle Vergleich der Protagonisten zeigt sie – und dies wurde bis jetzt nicht erkannt – als komplementäre Beispiele der Auseinandersetzung mit Kunst und Welt. Dadurch wird im Hinblick auf Der Theatermacher Hans Höllers Auffassung der "berührenden dramatischen Größe" (Höller 403) Bruscons in Frage gestellt, in Bezug auf Alte Meister die Ansicht, dass der Protagonist Reger als überwiegend lächerliche Figur zu werten sei, wie dies Wendelin Schmidt-Dengler ("Thomas Bernhard's Poetics of Comedy") und Herwig Walitsch mit unterschiedlichen Be-gründungen behaupten. Die Resultate vorliegender vergleichender Untersuchung korrigieren somit auch bisherige Einzeldeutungen.

Der Theatermacher Bruscon steht einem kleinen Wandertheater vor, in dem er, seine Gattin, seine Tochter und sein Sohn auftreten. Die Truppe befindet sich auf einer Tournee durch Dorfgasthöfe der österreichischen Alpen. Das Stück beginnt mit Bruscons Inspizierung des Tanzsaals in einem Dorf namens Utzbach und gibt im zweiten Akt Einblick in den Probenalltag der Truppe, die unter Bruscons Regie Teile seiner selbstgeschriebenen "Menschheitskomödie" mit dem pompösen Titel "Das Rad der Geschichte" rekapituliert. Die Handlung des Stücks bleibt unklar. Deutlich wird, dass eine Unzahl historischer Per-sönlichkeiten vorkommen, darunter Cäsar, Napoleon, Churchill, Metternich, Madame Curie, Stalin, Hitler und Goethe. Die geprobten Sequenzen des Stücks (93) unterstreichen die komische Diskrepanz zwischen Bruscons Selbstbild ("Die Idee war ja / eine Komödie zu schreiben / in der alle Komödien enthalten sind / die jemals geschrieben worden sind /"; 99) und der Lächerlichkeit seines künstlerischen Projekts. Die für den Abend vorgesehene Aufführung fällt in letzter Minute aus, da ein Blitzschlag das Pfarrhaus in Flammen setzt, gerade als sich der Vorhang öffnen soll (116).

Wie auch in anderen Stücken Bernhards gibt es in Der Theatermacher wenig dramatische Handlung. Die Familienmitglieder ordnen sich zwar ohne offenen Widerspruch unter, zeigen aber begrenzten Widerwillen und verhaltenes Aufbegehren gegen Bruscon. Die Tochter streckt ihm die Zunge heraus (73) und bringt ihm "lauwarmes Utzbacher Kloakenwasser," anstatt des geforderten Markenmineralwassers (77). Auch die Mutter, die entscheidenden...

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