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MLN 120.3 (2005) 620-632



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Stimmbildung

Zum Verhältnis von Theater- und Mediengeschichte

ZFL Berlin

1. Parasitäre Stimmen

[...] daß Worte gerade kamen.. eine Stimme, die sie nicht erkannte.. zuerst.. so lange her daß sie ertönt war.. mußte schließlich einsehen.. konnte keine andere sein.. als ihre eigene.. gewisse Vokale.. die sie noch nie gehört.. anderswo.. so daß Leute gafften.. die wenigen Male.. ein- oder zweimal im Jahr.. immer Winter sonderbarerweise.. sie verständnislos angafften.. und nun dieser Schwall.. unablässiger Schwall.. sie die noch nie.. ganz im Gegenteil.. gleichsam sprachlos.. ihr Leben lang.. wie hielt sie es durch!.. selbst beim Einkaufen.. beim Einkaufen draußen.. belebtes Einkaufszentrum.. Supermarkt.. nur die Liste abgeben.. mit der Tasche.. alte schwarze Einkaufstasche.. dann da wartend stehen.. wer weiß wie lang.. inmitten der Menge.. regungslos.. ins Leere starrend.. Mund halb offen wie gewöhnlich.. bis sie wieder in ihrer Hand war.. die Tasche wieder in ihrer Hand.. dann zahlen und gehen.. nicht mal Aufwiedersehen.. wie hielt sie es durch!.. und nun dieser Schwall.. kriegte nicht die Hälfte davon mit.. nicht ein Viertel.. keine Ahnung was sie da sagte!.. bis sie anfing zu versuchen.. sich was vorzumachen.. es sei überhaupt nicht ihre.. überhaupt nicht ihre Stimme.. und hätte es wahrscheinlich geschafft.. unbedingt nötig war nahe daran.. nach langen Bemühungen.. als sie plötzlich fühlte.. allmählich fühlte.. ihre Lippen bewegten sich.. man denke!.. ihre Lippen bewegten sich!.. wie freilich bis dahin noch nie.. und nicht nur die Lippen.. die Wangen.. die Kiefer.. das ganze Gesicht.. all die.. was?.. die Zunge?.. ja.. die Zunge im Mund.. all die Verrenkungen ohne die.. kein Sprechen möglich.. und doch normalerweise.. überhaupt nicht fühlbar.. [End Page 620]

so sehr achtet man.. auf das was man sagt.. da man ganz an seinen Worten hängt.. so daß nicht nur sie genötigt war.. sie nicht nur.. sie nicht nur genötigt war.. aufzugeben.. zuzugeben daß es nur ihre war.. nur ihre Stimme.. sondern dazu noch der gräßliche Gedanke.. oh lange danach.. plötzlich klar.. sogar noch gräßlicher falls möglich.. daß Gefühl wiederkäme.. man denke!.. daß Gefühl wiederkäme!.. zuerst oben.. dann nach unten durchdringend.. den ganzen Mechanismus.. aber nein.. davon verschont.. nur der Mund.. bislang.. ha!.. bislang.. dann denkend.. oh lange danach.. all dies.. unablässiger Schwall.. Mühe es zu hören.. was daraus zu machen.. und ihre eigenen Gedanken.. daraus was zu machen.. das all-.. was?.. das Sausen?.. ja.. die ganze Zeit das Sausen.. das sogenannte.. [...]1

Wer spricht in dieser Passage aus Samuel Becketts Theaterszenario Not I ? Es ist eine anonyme Stimme, deren Redeschwall selbstreferentiell um sich selbst kreist. Insofern sie einem kurz über dem Bühnenboden schwebenden Mund entsteigt, kann sie nicht als Monolog einer dramatischen Person identifiziert werden kann. Vielmehr erscheint sie als ein parasitärer Fremdling, der sich in ein stummes, bestimmungsloses 'Ich' eingenistet hat. Das Stück beginnt mit leisem Gemurmel hinter dem Vorhang, das sich im Text nicht notieren, sondern nur benennen bzw. anweisen läßt. Wenn der Vorhang sich öffnet, wird die Stimme nach und nach verständlich, so als ob jemand einen Regler im Tonstudio bedienen würde. Dem Mund gegenüber steht die Gestalt des Vernehmers (engl. Auditor), die ganz auf die Funktion des Hörens reduziert ist und die durch stumme Bewegungen zu verstehen gibt, daß sie nichts versteht. Sie trägt ein nordafrikanisches Kapuzengewand—Theater im Zeichen einer wachsenden Wüste, könnte man sagen.Beckett selbst zog im übrigen die TV-Version von Not I vor, in der die stumme Gestalt ganz wegfällt zugunsten einer durchgehenden Nahaufnahme, die Lippen, Zähne, Zunge und Speichel deutlich und übergroß sichtbar macht2 und den Mund auf diese Weise als bedrohlichen Rachen auf dem Bildschirm erscheinen läßt. Die Anweisungen für die Bühnenversion lauten folgendermaßen: [End Page 621]

Bühne dunkel

bis auf Mund, im Hintergrund rechts, etwa 20 cm über Bühnenniveau, schwache...

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