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MLN 119.3 (2004) 614-619



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Marianne Schuller und Gunnar Schmidt, Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript Verlag, 2003. 180 pages.

"Die Figur des Kleinen hat viele Gesichter."

"Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unsere[m] Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Anekdote.) Die Dinge, so vorgestellt, dulden keine vermittelnde Konstruktion aus "großen Zusammenhängen". Es ist auch der Anblick großer vergangner Dinge—Kathedrale von Chartres, Tempel von Pästum—in Wahrheit (wenn er nämlich glückt) ein: sie in unserem Raum empfangen. Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben."
(Walter Benjamin, Passagen-Werk, Bd. 1, 273)

Empfänglichkeit für den Anblick des Kleinen, genauer literarischer und philosophischer Figuren des Kleinen, so könnte man einen gemeinsamen Zug der in Mikrologien konstellierten Texte bezeichnen. So vielgesichtig wie in ihnen das Kleine aufscheint, dulden auch die Figuren des Kleinen nicht die "vermittelnde Konstruktion aus großen Zusammenhängen", wie es "eine systematische oder entwicklungsgeschichtliche Darstellung" ebenso wie eine allgemeine Theorie des Kleinen" (7) mit sich bringen würden. Denn sie "läuft Gefahr, ihren Gegenstand einzuebnen und seiner Wirkkraft zu berauben" [End Page 614] (7). Was dann gibt die Anordnung der literaturwissenschaftlich und kulturtheoretisch ausgerichteten Lektüren zum Kleinen zu lesen?

In einer knappen Vorbemerkung, die nicht weniger als sieben Vor-Worten vorangestellt ist, heißt es: "Der Begriff der Mikrologie meint die Lehre von den kleinen Dingen, die mit der Erfindung des Mikroskops ihre wissenschaftliche Nobilitierung erfahren hat" (7). In dem Maße, wie "der mikroskopische Blick als Verfahren von den Wissenschaften der Natur in die Geisteswissenschaften übergeht und die Lektüre symbolischer Gebilde steuert", teilen die Natur- und Geisteswissenschaften den mikroskopischen Blick als einen analytischen, dem die Kraft der Zerlegung sowie die Forderung nach Entzifferung und Lektüre innewohnen. Jedoch, wie es das Verfahren der Fallstudie heraus springen lässt, das sich als "Erkundungs- und Darstellungsverfahren [...] auf einen vorgegebenen Kontext" bezieht und "der zugleich unabsehbaren Singularität des einzelnen Geschehens Rechnung" (8) trägt, gibt es genauso wenig den mikroskopischen Blick wie die mikrologische Lektüre geschweige denn das Kleine.

Die sieben Miniaturen, die den Kapiteln "Monade", "Keim", "Atom" vorgestellt sind, facettieren die analytischen Perspektiven, mit denen Figuren des Kleinen auf motivischer, epistemischer und poetologischer Ebene entdeckt werden. Was hier in der Verdichtung aufblitzt—

die Zerbrechlichkeit des Kleinen an der Schwelle zur Moderne, die mit Goethes Umschrift Die neue Melusine zur Sprache kommt; die Erfindung des Mikroskops und der Infinitesimalrechnung, die zu Techniken der Kontrolle des Kleinsten führen und eine Mikrophysik der Macht ermöglichen; die traditionellen Modelle des Keimes, in denen die Arbeit des Dechiffrierens sich bis heute im Bereich der Gentechnologie fortsetzt; das der philosophischen Erkenntnis entzogene Kleine, welches das literarische Schreiben Kafkas umkreist; das Kleine in technischer Form, wie sie eine Erzählung Hawthornes mit der Mikrobildnerei anstößt und Beziehungen zur Mikrotechnologie (Nano-, Mikrochiptechnologie) herstellt; als profaner Slogan einer politischen Protestbewegungen der 70er Jahre 'small is beautiful', der das Kleine als das Ohnmächtige und Erhabene in einem ästhetischen und politischen Kontext aufliest; das geringfügig Kleine, wie es theoretisch mit dem Objekt a der psychoanalytischen Theorie Lacans thematisch wird, welches das Abgefallene und die Armut, das ein Begehren nach Ersatz und ökonomische und sakrale Wertigkeiten hervorruft—

, zeigt eine Überdeterminiertheit, einen semiologischen Reichtum des Kleinen, der es in seiner Produktivität und zerstörerischen Kraft in verschiedenen epistemologischen Räumen erwischt. Es berührt auch die subtilen Formen und Prägungen des Kleinen, die Geschichte(n) schreiben, wie sie in den folgenden Kapiteln sowohl entfaltet als auch in ihren Faltungen erkennbar werden. Eine Faltung, die sich in dem Zwischenraum von 'Von Tropfen [End Page 615] und Spiegeln' und 'Scherben' unter dem Gesichtspunkt der Monade einstellt, sei hier vorgestellt.

Von Tropfen und Spiegeln. Medienlogik und Wissen im 17. und frühen 18. Jahrhundert

Die Erfindung des Mikroskops und der Infinitesimalrechnung im 17. Jahrhundert kundet von einer bis dahin ungekannten Aufmerksamkeit für das Kleine im Kontext naturwissenschaftlicher und...

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