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  • Übersetzen bei Johann Gottfried Herder. Theorie und Praxis by Clémence Couturier-Heinrich
  • Kaspar Renner
Übersetzen bei Johann Gottfried Herder. Theorie und Praxis. Herausgegeben von Clémence Couturier-Heinrich. Heidelberg: Synchron, 2012. 256 Seiten. €34,80.

Auf dem Titelblatt dieses vorzüglichen, von Clémence Couturier-Heinrich herausgegebenen Bandes ist Pieter Bruegels Turmbau zu Babel (1563) abgebildet. Herders Theorie und Praxis des Übersetzens lasst sich als Arbeit an diesem biblischen Mythos beschreiben. In seiner Schulrede Über den Fleiβ in mehreren gelehrten Sprachen aus dem Jahr 1764 bezieht sich Herder explizit auf den Mythos von der babylonischen Sprachverwirrung. Er hat ihn zwar nicht übersetzt, jedoch paraphrasiert und dabei in mehrfacher Hinsicht um- und fortgeschrieben. So klingt die Sehnsucht nach einem Ursprung, in dem “alle Welt nur eine Zunge und Sprache war” (FHA 1, 22), in Herders Rede nur noch leise an. Faszinierender scheint Herder vielmehr der Zustand nach der Verwirrung zu sein, der aus kulturanthropologischer Sicht neu gedeutet wird: Die Vielfalt der Sprachen wird, zeitgenössischen Theoremen gemäß, aus Faktoren wie Klima oder Nationalcharakter hergeleitet, von der affektvollen Sprache des “Morgenländer[s],” der “unter einem heißen Scheitelpunkt gluhet” (FHA 1, 22) über den “wollüstigsten und mildesten Himmelsstrich,” den erst Griechen, dann Römer bevölkern, bis in die gemäßigteren Breiten der Deutschen und Gallier.

Diese theologisch geprägte Ursprungserzählung, die dann zu einem kulturmorphologischen Großpanorama ausgeweitet wird, entwirft Herders Schulrede jedoch nur im Hinblick auf eine konkrete pädagogische Frage, die sich im ostpreußischen Schulwesen der 1760er Jahre stellt: Wie soll das Verhältnis von fremd- und muttersprachlichem Unterricht gestaltet werden? Herder wendet sich gegen den humanistischen Primat der lateinischen Stilübungen, die in Übersetzung und Nachdichtung gepflegt werden, aber auch gegen eher realistisch ausgerichtete Ansätze, welche die modernen Fremdsprachen wie Französisch und Italienisch stark machen. Demgegenüber betont er die Priorität der Muttersprache, die durchaus noch mit den heilsgeschichtlichen Prädikaten einer Ursprache ausgestattet ist. Der sorgfältig argumentierende Eröffnungsbeitrag Michael Maurers zeigt jedoch, dass diese Muttersprache nach Herder nur in der produktiven Anverwandlung fremder Sprachen ausgebildet werden kann (siehe 31–33): “Mit dem deutschen Fleiß suche ich die gründliche englische Laune, den Witz der Franzosen, das Schimmernde Italiens zu verbinden” (FHA 1, 26). Es ist ein großes Verdienst des Bandes, zunächst diese theologischen, anthropologischen und [End Page 496] pädagogischen Denkvoraussetzungen zu exponieren, von denen her der junge Herder seine Theorie und Praxis des Übersetzens entwickelt.

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die im Jahr 2009 als Veranstaltung des an der Université de Picardie Jules Verne ansässigen “Centre d’Études des Relations et Contacts Lingustiques et Littéraires” (CERCLL) in Amiens stattfand. In ihrer Einleitung zeigt die Veranstalterin und Herausgeberin Clémence Couturier-Heinrich mit souveränem Zugriff, wie sich die sechzehn Beiträge in die Forschungslage einfügen. Unverzichtbare Grundlage für jede Auseinandersetzung mit Herder als Übersetzer bildet Ulrich Gaiers Kommentar zum dritten Band der Frankfurter Ausgabe (FHA) aus dem Jahr 1990. Im Tagungsband ist Gaier mit einem lesenswerten Beitrag zu Herders Konzept der “Mentalübersetzung” vertreten, der weitere Literaturhinweise gibt. Was monographische Forschungsbeiträge angeht, kann Andreas F. Kelletats Dissertation Herder und die Weltliteratur. Zur Geschichte des literarischen Übersetzens im 18. Jahrhundert aus dem Jahr 1984 nach wie vor als Standardwerk gelten. An dieses haben jüngere Dissertationen angeknüpft, wie die Arbeit Rüdiger Singers ‘Nachgesang’. Ein Konzept Herders, entwickelt an Ossian, der popular ballad und der frühen Kunstballade aus dem Jahr 2006. Singer ist ebenfalls mit einem Beitrag vertreten: Herders Praxis der “tonbewahrenden” Übersetzung, die bereits Kelletat und Gaier beobachtet haben, wird hier mit Blick auf die Position des Übersetzers präzisiert (siehe 99–102). Im Anschluss an Singer wird in der Einleitung die sinnvolle methodische Vorentscheidung getroffen, Herder weniger auf eine möglichst widerspruchsfreie Theorie der Übersetzung zu befragen, als vielmehr von unterschiedlichen Praxisfeldern des Übersetzens auszugehen, die ihre je eigenen Reflexionsformen hervorgebracht haben.

Ein Stärke des Bandes liegt darin, sowohl das Früh- als auch das Spätwerk Herders zu berücksichtigen. Hier sind die Beiträge zweier französischer Wissenschaftlerinnen hervorzuheben. Sylvie Le Moël von der Universität Tours...

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