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  • Darstellung bei Walter Benjamin. Die ‘Erkenntniskritische Vorrede’ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne
  • Rolf J. Goebel
Darstellung bei Walter Benjamin. Die ‘Erkenntniskritische Vorrede’ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Von Jan Urbich. Berlin und Boston: de Gruyter, 2012. vii + 531 Seiten. € 99,95.

Benjamins (institutionell gescheiterte aber wirkungsgeschichtlich umso erfolgreichere) Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels (entstanden 1923–25, publiziert 1928) gehört zu den schwierigsten seiner ästhetisch-philosophischen Frühwerke. Schuld oder Verdienst daran hat nicht zuletzt die berühmt-berüchtigte “Erkenntniskritische Vorrede,” die wegen ihrer komplexen Selbstreflexivität, sprunghaft- diskontinuierlichen Argumentation und kryptischen Anspielungs- und Zitierstrategien geradezu darauf angelegt ist, die hermeneutische Entschlüsselungsarbeit als schiere Bewältigung der Befremdung und Verunsicherung durch den abgründigen Rätsel-charakter des Textes zu erfahren. Hat Bettine Menke in zwei wichtigen Beiträgen (Benjamin-Handbuch, Stuttgart 2006 und Das Trauerspiel-Buch, Bielefeld 2010 [editor’s note: see review in Monatshefte 103:4, Winter 2011, 681–683]) ihre genaue Explikation des eigentlichen, der Form des Trauerspiels gewidmeten Hauptteils unter bewusster Ausklammerung der Vorrede durchgeführt, so bietet Urbichs umfassende Studie gewissermaßen den Gegenpol dazu, indem sie sich primär der Vorrede widmet, ohne im Wesentlichen auf den Hauptteil einzugehen, abgesehen von einem kurzen Kapitel über das ästhetische Zeichen in den kunstphilosophischen Passagen (374–85).

Urbich gelingt es beispielhaft, die in der Vorrede unternommene radikale Weiterschreibung, Kritik und Revision metaphysischer Kategorien—Idee, Wahrheit, Erkenntnis, Schönheit, Schein, Ursprung, Monade—als Benjamins umfassende “Wie-derbelebung stillgelegter Diskursstränge des Darstellungsproblems seit dem 18. Jh.” zu rekonstruieren (3). Indem er Benjamins “Theorem der ‘Wahrheitsförmigkeit’ literarischer Formensprache vor der Folie des zweiwertig-antinomischen kantischen Erkenntnismodells [End Page 457] und in Bezug auf den Darstellungsmodus der Literatur” untersucht, dient die “grundlegende Opposition von (philosophischem) ‘Begriff’ und (ästhetischem) ‘Bild,’ von Begriffsförmigkeit und Anschaulichkeit” als “erkenntnistheoretisches Modell” für die Untersuchung der “unterschiedlichen Problemfelder der Ästhetik und Poetik seit dem 18. Jh.” (3). Den Bogen schlägt Urbich souverän von Platon über Kant, Hegel, Leibniz, Lessing, Klopstock und Goethe bis zu analytischen und hermeneutischen Fortschreibungen des Darstellungsproblems bei Nelson Goodman, Arthur C. Danto, Hans-Georg Gadamer und Günter Figal.

Nachdem er die Spuren von Benjamins Darstellungstheorie in anderen Frühwerken—zur Kunstkritik der deutschen Romantik, zur Sprachmetaphysik und zu Goethes Wahlverwandtschaften—verfolgt, mündet Urbichs Studie in eine umfassende und programmatische Analyse der Selbstreflexivität des literarischen Kunstwerks, deren “Bedeutungselemente” immer “in einem wechselseitigen Verhältnis der Spiegelung, Weiterführung, Widersprüchlichkeit, Transformation, Überschreibung” stehen (479). Diese treffende Definition gilt freilich nur—was von Urbich wohl so nicht ganz be-dacht scheint—für das literarische Kunstwerk in seiner klassisch-frühromantischen bis hochmodernen Ausprägung, also bis zu seiner Infragestellung durch die Avant-garde und die Popkultur. Dies sind Bewegungen, die—abgesehen etwa vom Surrealismus—Benjamins eigenen historischen Wahrnehmungshorizont bereits überschreiten, dennoch aber von seiner noch nicht eingeholten Ästhetik kritisch zu beleuchten wären, so wie sie diese eventuell auch in Frage stellen dürften.

Beeindruckend sind Urbichs argumentative Detailgenauigkeit, umfassende Quellenforschung und tiefschürfende Analysen, die Benjamins Vorrede einsichtsvoll auf einen größtmöglichen Traditionszusammenhang öffnen. Weit über tausend, oft lange Anmerkungen führen darüber hinaus zu weiteren Kontext-Richtungen, wodurch oft der Eindruck entsteht, dass (wie so oft bei Benjamins Texten) die Vorrede ein geradezu endloses Verweisungsgebiet sei, das den Lesern immer weitere Denkanstöße gibt, aber ihnen auch deren Schranken und Grenzen bewusst macht.

Eine dieser Selbstbegrenzungen liegt in Urbichs programmatischer Entschei-dung, das theoretisch Explizierte der Vorrede nicht an konkreten literarischen Texten zu veranschaulichen, sondern seine Überzeugungskraft ganz aus sich selbst heraus entfalten zu lassen, denn der Begriff gelange “nur dort ins Herz des Besonderen, wo er den weitestmöglichen Abstand und die größte Entfremdung zu diesem durchgemacht hat” (15). Zu überzeugen vermag diese theoretische Selbstbezüglichkeit—trotz des eindeutigen Erkenntnisgewinns von Urbichs philosophiegeschichtlichen Analysen—so nun doch nicht: eine “Anwendung” Benjamin’scher Theorie braucht nicht immer eine “ungenaue, schiefe oder gar falsche” zu sein, und eine “Veranschaulichung” ist keine notwendig “müde,” die von der “Arbeit des Begriffs” ablenkt (15). Vielmehr ergäbe sich gerade aus der Tatsache, dass die Vorrede nicht direkt und bruchlos mit dem Hauptteil des Trauerspiel-Buches...

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