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Reviewed by:
  • Antike Mythen. Kafka und Brecht
  • Franz R. Kempf
Antike Mythen. Kafka und Brecht. Von Frank D. Wagner. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006. 163 Seiten.€28,00.

Seit Benjamin und Brecht 1934 im schwedischen Exil über Kafka diskutierten, existiert so etwas wie eine unüberbrückbare Kluft zwischen Kafka und Brecht: hier der marxistische Rabbi, da der undogmatische Marxist; hier die Parabel als Gordischer Knoten, da als Ei des Kolumbus; hier die solipsistische, da die veränderbare "Wirklichkeit"; hier die ontologische, da die kapitalistische (Selbst- )Entfremdung; hier die autonome, da die engagierte Kunst. Adorno orakelte: "Wen einmal Kafkas Räder überführen," der würde gerade die von Brecht monierte "Dunkelheit" Kafkas als "widerständig" empfi nden (156–7). Ein anderer Kritiker bringt den Zwiespalt auf den selbstironischen Punkt: Der dekadente Ästhet Kafka soll letztlich doch ein "Realist" gewesen sein—so Lukács, als er 1956 auf einem sowjetischen Militärlaster aus Budapest zu seinem "Prozess" gekarrt wurde.

Wer von Wagner eine (rezeptionsgeschichtliche) Aufarbeitung dieser Kontroverse erwartet, wird enttäuscht. Für ihn ist sie ein unergiebiges fait accompli, das er ohne sekundärliterarischen Nachweis konstatiert und lieber nicht "fortschreiben" will (12). Stattdessen konzentriert er sich auf Kafkas und Brechts jeweils unterschiedlich akzentuierte, kritische und kreative Aneignung antiker Mythen. Im Vordergrund stehen dabei Prometheus' und Odysseus' Begegnung mit den Sirenen (bei beiden), Poseidon (bei Kafka) und Oedipus und Antigone (bei Brecht). Wagners Nachzeichnen dieser Aneignung ist zweifelsohne vom Klügsten, was die Forschung dazu zu bieten hat: scharfsinnig, stringent und prägnant. Er entpuppt sich als quellenkundiger "Altphilologe," der noch dem kleinsten Detail überzeugende exegetische Bedeutung abgewinnen kann. Gleichzeitig eröffnet sein weitgespannter komparatistischer Horizont—er reicht von André Gides Schlechtgefesseltem Prometheus über Rilkes "Die Insel der Sirenen" bis hin zu Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung—frappierende Einblicke in Kafkas und Brechts radikale Originalität.

Der extremen Entmythologisierung aus der Sicht der Moderne liegen laut Wagner unterschiedliche Intentionen zugrunde: "poetische Verrätselung" bei Kafka; "strategische [sprich: gegenwartsbezogene] Rationalisierung" bei Brecht (10). Kafkas Odysseus wird so zu einem Vexierbild von Logik, List und Komik (28), Poseidon zum personifi zierten "Prinzip Büro" (36). Brecht funktioniert Odysseus zum zeitgenössischen Kunstbanausen (67), Antigone hingegen zur Symbolfi gur des deutschen Widerstandes um (117).

So nuanciert und bestechend Wagners Aneignungsgeschichte ist, so reduktiv und unüberzeugend ist seine Schlussfolgerung in Bezug auf die heikle Frage nach dem Kafka- Brecht- Verhältnis. Es gehe ihm nicht um "Dominanz" sondern um "Differenz," bemerkt er. Aber um diese Differenz zu bewerkstelligen, reduziert er Kafka zum Nihilisten. Zwar betont er (bezüglich des "Sirenen"- Textes) Kafkas von "irrem Witz" durchtränkten "Abschied vom Mythos" (27), aber schon bei "Poseidon" spricht er vom fehlenden "Glückspotential" (37) und konstatiert schließlich, dass "Prometheus" trotz des "funkelnden Reizes des Unerklärlichen" in "der ewigen Kälte des Nichts" enden würde (48, 50). Wagners Fazit lautet deshalb: "Wer Brecht mit Kafkas Augen liest, sieht schärfer die Grenzen des Machbaren und des Veränderbaren. Umgekehrt verliert die Sicht der Vergeblichkeit ihren magischen Zauber" (143–44). [End Page 626]

Im Ansatz überzeugender ist Wagners Ansicht, dass Kafka und Brecht die Kehrseiten ein und derselben Münze sind (12). Was genau das Dioskurische an den beiden Antipoden ist, wird nur angedeutet. Die wiederholte Behauptung, Kafka und Brecht würden "auf der gleichen humanen Erde" stehen (143, 144, Klappentext), legt den Schluss nahe, dass damit vor allem die aufklärerische Befreiung vom Schicksalsge-danken gemeint ist (vgl. 6, 115).

Kafka und Brecht als Kinder der Aufklärung? Immerhin ist die im Habermas'schen Sinne verstandene Aufklärung die Kraft, die den Übergang vom Mythos zur Moderne vorantreibt und vielleicht wäre Wagner besser beraten gewesen, die "Differenz" zwischen den beiden auf dem von Kant und Hegel bereiteten Boden zu verhandeln. Bekanntlich hat Dürrenmatt die leidige Kontroverse zwischen sich und Brecht einmal auf die Formel gebracht, dass ihm "die Fragestellung Kants interessanter [sei] als die Antworten Hegels." Dürrenmatt situierte sich damit nicht im Entweder- Oder sondern in der Spannung des Sowohl- als- Auch. Auch wenn diese "Differenz" nur mutatis mutandis auf Kafka und Brecht übertragbar ist, so ergäbe sich daraus vielleicht doch ein praktikabler gemeinsamer Nenner. Pointiert...

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