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  • Eine geheime Verabredung.Über Walter Benjamins Umgang mit Theologie
  • Gérard Raulet (bio)

Benjamins „Thesen" Über den Begriff der Geschichte lassen sich nicht umstandslos in eine Tradition „jüdischen Denkens" einschreiben. In meinen bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Komplex habe ich diese Spannung als nicht auflösbar dargestellt und umso mehr für unauflöslich gehalten, als es nicht nur um die Spannung zwischen historischem Materialismus und jüdischem Denken, sondern auch innerhalb des letzteren um diejenige zwischen Messianismus und Apokalyptik und zwischen äußerst widersprüchlichen Strömungen geht, die an beidem Anteil haben und beides verschiedentlich kombinieren.1 Damit ging freilich die Neigung einher, diese ungelöste Spannung als Scheitern zu interpretieren. Ich möchte hier deshalb ein stückweit von diesem Deutungsschema abrücken und sie vielmehr—wenn auch als Ausdruck eines unleugbaren praktischen Scheiterns—als die Grundstruktur des Benjaminschen Denkens aufzufassen versuchen: als die Struktur, durch die es sich eben weder dem Marxismus noch dem Judentum verschreibt, sondern zwischen beidem eine „geheime Verabredung" inszeniert.

Nach Scholem soll die Religion für Benjamin bis zuletzt die höchste Ordnung geblieben sein. Diese Behauptung kann sich auf verhältnismäßig [End Page 625] zahlreiche Äußerungen stützen. So steht in einem Brief an Max Rychner, von dem Benjamin ihm kennzeichnenderweise eine Kopie schickte:

Ich habe nie anders forschen und denken können als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn—nämlich in Gemäßheit der talmudischen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle.2

Allerdings fügt Benjamin sogleich mit Humor hinzu:

Nun: Hierarchien des Sinns hat meiner Erfahrung nach die abgegriffenste kommunistische Platitüde mehr als der heutige bürgerliche Tiefsinn, der immer nur den einen der Apologetik besitzt.

(GB IV, 20)

Ähnlich humorvoll ist die sehr berühmte und oft überstrapazierte Äußerung:

Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.3

Die Verwandtschaft dieser Formulierung mit derjenigen der ersten These „Über den Begriff der Geschichte", in der die Darstellung des Verhältnisses zwischen Marxismus und Theologie ebenfalls unter das Zeichen des Humors gestellt wird, ist unüberhörbar. In letzterer heißt es nach dem Wortlaut des Manuskriptblatts 466v:

Gewinnen soll, wenn es nach mir geht, die Türkenpuppe, die bei den Philosophen Materialismus heißt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem Gegner aufnehmen, wenn sie sich der Dienste der Theologie [versichert], die heute ohnehin klein und häßlich ist und sich nirgends sehen lassen darf.4

Löschblatt und Tinte, Zwerg und Puppe etc.—nur auf den ersten Blick scheinen die Metaphern eindeutig zu sein:

Der historische Materialismus nimmt die Theologie „in seinen Dienst": er ist Herr, der bestimmt; die Theologie die Dienstpflichtige, die für ihn die Arbeit zu tun—sozusagen das Denken zu besorgen hat.5 [End Page 626]

Mit Recht weist Tiedemann darauf hin, dass Puppe und Zwerg, ja auch das Schachbrett selbst, ein Ganzes bilden und dass die von Benjamin beanspruchte Effizienz—es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen" zu können—nur aus dieser Kombination resultiert. Dass Benjamin die Publikation der Thesen anscheinend ausschloss—zumindest in dieser Form, d.h. als Thesen—dürfte kein genügendes Argument sein, um das theologisch-politische Spannungsverhältnis in Benjamins Denken für unauflösbar zu halten und es bloß als offene Spannung bestehen zu lassen. Ich neige eher zu der Annahme, dass gerade diese Spannung das Medium ihrer „geheimen Verabredung" bildet. Das wird hier der Fluchtpunkt meiner Überlegungen sein.

I. Eine Philosophie des Judentums

Hier empfinde ich die Sätze über dieVerschränkung des Deutschen und Jüdischenals ganz entscheidend.

(Adorno an Benjamin 17.12.1934).

Man soll aufhören, Benjamins Verhältnis zum Messianismus isoliert zu behandeln, d.h. ohne es in den in den 1920er und 30er Jahren besonders regen Kontext der Debatten über Theologie und Politik und insbesondere über den Zionismus einzuschreiben. Man hat diesen Komplex bis jetzt auf die „jüdischen Philosophen" beschränkt, die—wahrscheinlich wegen ihrer vermeintlichen „jüdischen Identität"—in irgendeiner Weise mit Benjamin in Verbindung gebracht werden konnten. Also...

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