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  • "Morbus Austriacus." Thomas Bernhards Österreichkritik by Georg Thuswaldner
Georg Thuswaldner , "Morbus Austriacus." Thomas Bernhards Österreichkritik. Wien: Braumüller, 2011. 175 S.

Gesellschaftskritik und kulturpessimistische Anklagen bilden einen wesentlichen Faktor im literarischen Erkenntnisprogramm Thomas Bernhards. In vielerlei Schattierungen und abermals mit pathetischer Übertriebenheit zum Ausdruck gebracht spiegeln die scheinbar endlosen Hasstiraden des herb angreifenden Österreichers die vermeintlichen Unvollkommenheiten wider, die den politischen, sozialen, geistigen und kulturellen Weltzustand nach 1945 charakterisieren. Hinter diesem ausgesprochenen Hang zu Absurdem und Parodistischem, der Bernhard in die künstlerische Nähe zu Beckett und Artaud rückt, verbirgt sich eine verbissene Ernsthaftigkeit, die seinem Oeuvre einen existentiellen Stempel aufdrückt. Damit stehe, so Thuswaldner, einer subjektiven Erzählweise "die angebliche Objektivität der Texte gegenüber, die aber nur eine scheinbare ist" (152) und die über die allgemeine Sprachskepsis in der österreichischen Literatur hinausgeht, um die prinzipielle Erkenntnisfähigkeit des Menschen in Abrede zu stellen. Zu diesem Zweck steht eine in ihrer Wirkmächtigkeit noch nicht vollständig ausgeforschte Technik Bernhards, literarische, philosophische und kultursoziologische Vorlagen verschiedenster Provenienz zu zitieren, um deren ästhetische wie erkenntniskritische Denkstrukturen neu einzukleiden und durch rhetorische Überzeichnung zu konterkarieren. So lassen sich die Entlehnungen aus der russischen Literatur in Die Jagdgesellschaft, die subtile Umgestaltung von Schellings Freiheitsabhandlung in der Filmvorlage Der Kulterer, die Spottbilder [End Page 116] aus Goethes Hermann und Dorothea in Der Theatermacher wie auch die Persiflage auf Hofmannsthals Der Rosenkavalier in Die Berühmten deuten, um nur einige Beispiele dieser Technik zu nennen.

Zweifellos führt Bernhard die Tradition eklektischer Textgestaltung weiter, die man der österreichischen Literatur im Allgemeinen bescheinigt und die vor allem die Werke der Nachkriegsgeneration kennzeichnen, im Einzelnen die Texte Aichingers, Bachmanns oder Johannes Freumbichlers. Neben der Demaskierung des Restaurativen, das Bernhard mit dem Konzept der ewigen Wiederkehr korreliert und in eine Demontage der europäischen Auf-klärungstradition einmünden lässt, sind ebenfalls Anspielungen auf Adorno und Horkheimer erkennbar, die ihrerseits dem aufklärerischen Erbe eine Absage erteilen. Insofern mündet Bernhards Anti-Positivismus in einen Nihilismus, der zum wichtigsten Charakteristikum einer kollektiven Seuche namens Morbus Austriacus führe, deren Bezeichnung der Verfasser der vorliegenden Studie der Biographie des an Morbus Boeck leidenden Bernhard entlehnt.

Einleitend befasst sich Thuswaldners diachronische Vorgehensweise mit dem labilen Österreichbewusstsein nach 1945, das sich als Kontext für Bernhards antagonistisches Verhältnis zu seinem Heimatland in den frühen lyrischen Erzeugnissen dient. Ein besonderer Akzent wird in diesem Teil auf die Heimatliteratur gelegt, die jedoch nicht als bejahende Naturdarstellung zu lesen wäre, sondern, mit negativen Vorzeichen versehen, sich als Abwertung der Naturschönheit zugunsten der Hybris einer verlogenen Heimatgläubigkeit erweist. Dagegen rückt die Besprechung des ersten literarischen Erfolgs, des Romans Frost, die kulturpessimistischen und misanthropischen Diskurse in den Mittelpunkt, die mit den Aberrationen des wahnsinnig genialen Malers Strauch, seiner Entmenschlichung und der Politisierung der debilen Landbevölkerung in Weng einhergehen. Im zweiten Teil erfolgt eine Untersuchung der halb autobiographischen Reminiszenzen in Ursache, wobei der Verfasser das Hauptaugenmerk auf Bernhards widersprüchliche Beziehungen zu Salzburg und die nationalsozialistisch-katholischen Unterdrückungen legt, die seine Internatszeit unterscheidet und aus denen das tiefgreifende, selbstkasteiende Opferbewusstsein vieler Roman-und Bühnenfiguren hervorgegangen sei. Folgerichtig setzt sich der Verfasser im dritten Teil seiner Studie mit zwei Gesellschaftsopfern des Spätwerks auseinander, dem aus Protest gegen Österreich in Rom lebenden Exilanten Franz Josef Murau und dem von Oxford nach Wien heimgekehrten, jüdischen Selbstmordopfer Josef Schuster. "Während Bernhard in Auslöschung das—in der österreichischen Innenpolitik [End Page 117] lange Zeit höchst unpopuläre—Thema der Reparationen anspricht, indem Murau seinen Besitz der Jüdischen Kultusgemeinde überschreibt, thematisiert Bernhard in Heldenplatz pessimistisch das Weiterleben der Juden im Österreich des Jahres 1988" (111). Trotz ihrer Verhängnisse als Opfer eines niederträchtigen Kollektivs plädiert Thuswaldner dennoch dafür, in der heilsamen Zusammenfügung von Gesellschaftskritik und Zeitgeschichte ein Anzeichen von Hoffnung in den finalen Texten Bernhards zu erblicken.

Die von Thuswaldner angedeutete Ablösung des mythologisch geprägten und differenzierten Numinosen zugunsten eines ent differenzierten Denkschemas lässt eine neue Form der Herrschaft zum Vorschein kommen, die sich in den letzten Erzeugnissen des Österreichkritikers Bernhard bemerkbar macht. Im Gegenzug zu diesem aufgeklärten Optimismus besteht die Existenz vieler Figuren in den Spätwerken noch immer aus Leiden, Enttäuschungen, Begehren, Kulturpessimismus, Todesangst, Krankheit, Verpflichtungen sowie angespanntem, endlosem Warten in der Manier Samuel Becketts. Als vernunftbegabte, aber häufig tatenarme Menschen, denen das Sagenkönnen eignet, steht ihnen die Summe dessen im Weg, was sich in ihrer unrühmlichen Vergangenheit aufgestaut hat. Diese Hypothek speist sich auf der einen Seite aus der Oberflächlichkeit des alltäglichen Denkniveaus in der Massenkultur und verordnet auf der anderen Seite die Verwerfung des bisher Vorgestellten als kathartische Vorbereitung auf ein neues, ehrbareres und lauteres Denkvermögen. Gleichwohl bleibt der Ursprung der kollektiven Zerrissenheit im Schatten eines unheimlichen Weltgeschickes verhüllt. Die Verhüllung selbst wird noch durch die Vormacht der öffentlichen Denk-und Redeweise zugedeckt, so dass trotz ihres unsäglichen Leidens, trotz der Not, die allzu viele Opfer in den Werken Bernhards ertragen, der heilsame Riss in der Zerrissenheit die Existenzgrundlage der Menschen noch nicht erträglicher macht. Nur die übertriebenen Gesellschaftskritiker, folgt man Thuswaldners Argumentation, kämpfen dagegen an, da sie durch Daueranklage einen Sonderstatus als homeopathisches Gegengift zu dem um sich greifenden Morbus Austriacus erlangen. Im Sinne Thuswaldners Studie, und um seine Schriftstellerkollegin Ingeborg Bachmann zu kolportieren, lautet die Bilanz: "Fest steht der (wohl heilsame) Schrei." [End Page 118]

Karl Ivan Solibakke
Syracuse University

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