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Reviewed by:
  • Goethe und seine lieben Deutschen: Ansichten einer schwierigen Beziehung by Eckart Klessmann
  • Ehrhard Bahr
Eckart Klessmann, Goethe und seine lieben Deutschen: Ansichten einer schwierigen Beziehung. Frankfurt/Main: Eichborn, 2010. 309 S.

Wer von dem Titel einen wissenschaftlichen Beitrag zum Thema erwartet hat, wird enttäuscht sein, denn es handelt sich um ein Buch zur Unterhaltung des gebildeten Lesers und nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung. Der Autor, bekannt durch Veröffentlichungen über Christiane Vulpius (1992) und Napoleon (2000), erklärt gleich zu Anfang, dass er nicht gewillt sei, “die zahlreichen Äußerungen Goethes über die Deutschen” zu sammeln. Das habe bereits Hans-Joachim Weitz in Goethe über die Deutschen getan. Ihm sei es vielmehr um “die Geschichte einer von Anfang an schwierigen und spannungsge-ladenen Beziehung und deren Ursachen zu Lebzeiten Goethes” gegangen (7). Dieses Verfahren hätte durchaus zu einer kritischen Verarbeitung der Thematik führen können. Stattdessen begnügt sich der Verfasser damit, ausführlich aus den überlieferten Quellen zu zitieren. Die einzelnen Kapitel enthalten Darstellungen über das Reich und die Deutschen, über Goethes Italienreise, seine Erfahrungen als Autor, die Begegnung mit Napoleon, Islam und Judentum, Weltliteratur sowie deutsche Sprache und deutsche Zukunft. Klessmann lässt die Quellen für sich sprechen, was an sich lobenswert ist. Doch er enthält sich zumeist einer Schlussfolgerung, denn, wie er argumentiert, könnte es sich dabei nur um “unbeweisbare Spekulationen” handeln (152, 155).

Wieweit sich der Autor auf die Forschung stützt, lässt sich nicht genau feststellen. Es gibt zwar ein fünfseitiges Literaturverzeichnis, aber keinerlei Fußnoten. Ebenso fehlt ein Personenregister. Zu Lessings Kritik am Werther wird die bekannte Stelle aus dessen Brief an Johann Joachim Eschenburg vom 26. Oktober 1774 zitiert, dass man kaum glauben könne, “daß je ein römischer oder griechischer Jüngling sich so und darum das Leben genommen” hätte, doch ein Kommentar des Verfassers fehlt dazu. Lessings Urteil ging nicht auf Unverständnis zurück, sondern auf sein Verständnis von Tragik: Werther war kein Philotas. Im Kapitel über die Italienische Reise werden Verse aus den “Römischen Elegien” [End Page 269] zitiert und Goethes Selbstzensur erwähnt (er entfernte vier Elegien vor dem Erstdruck in Schillers Horen). Doch die von Klessmann getroffene Auswahl der Publikumsreaktionen konzentriert sich auf den Skandal, den die Elegien im klein-städtischen Weimar verursachten (76–77). Von den positiven Reaktionen von Christian Gottfried Körner, Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel und Wilhelm von Humboldt wird keine einzige angeführt. Zu Goethes Begegnung mit Napoleon anlässlich des Fürstenkongresses in Erfurt im Oktober 1808 verweist Klessmann auf die Truppe der Comédie Française, die Napoleon aus Paris holte, um Tragödien von Corneille, Racine und Voltaire zur Aufführung zu bringen. In den Hauptrollen war der berühmte Schauspieler François-Joseph Talma zu sehen. Man kann daraus schließen, dass Napoleon die Demonstration des neuen französischen Nationalbewusstseins nicht auf militärischen Erfolgen, sondern auf dem Gebiet der Kultur basiert sehen wollte. Im Rahmen dieser “Kulturpolitik” wurden Goethe und Wieland zum Gespräch eingeladen und mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet. Dass Goethe sich mit dieser Auszeichnung keine Freunde unter den deutschen Patrioten machte, ist bekannt. Überlegungen zu Goethes Motivationen in seinem Verhältnis zum französischen Kaiser lehnt Klessmann als “Spekulation” ab (155). Zum West-östlichen Divan meint Klessmann, dass die Deutschen bis heute nichts mit dem Werk anzufangen wissen. Damit ignoriert er die umfangreiche Forschung der letzten fünfzig Jahre. Dass Goethes Identifikation mit dem Islam ihm beim Judentum versagt blieb, führt Klessmann darauf zurück, dass die Begegnung mit dem Koran sich auf dem Papier vollzog, während der Kontakt mit Juden sich nicht auf die Bibel beschränkte, sondern in der Alltagswelt stattfand. Klessmann spricht von “gelegentlich antijüdischen Vorurteilen” bei Goethe (234), doch hat die Forschung der letzten Jahre wiederholt darauf verwiesen, dass Goethes Vorurteile nicht so gelegentlich waren. Im Briefwechsel und in Privatgesprächen beurteilte er die Emanzipation der Juden durchgehends negativ. Im Schlusskapitel konzediert der Autor, dass “in Goethes künftigem Deutschland . . . die Gleichberechtigung der Juden nicht vorgesehen” war (295). Dass den Juden damit die Lebensbedingungen abgesprochen wurden, wird...

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