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  • Budapest-Berlin: Die Koordinaten einer Emigration, 1919-1933 by Eszter B. Gantner
  • Márkus Keller
Budapest-Berlin: Die Koordinaten einer Emigration, 1919-1933. By Eszter B. Gantner. Stuttgart: Franz Steiner, 2011. Pp. 264. Cloth €45.00. ISBN 978-3515099202.

Eszter B. Gantner untersucht in ihrem Buch, wie sich „progressive," linksgerichtete, ungarisch-jüdische Intellektuelle als Emigrantengruppe in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zurechtfanden. Die Untersuchung geht einerseits der Frage nach, wie sich diese Gruppe konstituierte, andererseits analysiert sie, wie und warum Berlin als Ort der Emigration gewählt wurde. Um diesen Fragen nachzugehen, wird die Rolle der ungarisch-jüdischen Intellektuellen in der ungarischen Gesellschaft, in der Moderne der Jahrhundertwende und während der revolutionären Ereignisse von 1918-19 erörtert und anhand von Egodokumenten das Leben, die Netzwerke sowie die Handlungsweisen der Emigrantengruppe in Berlin beschrieben.

Die These, dass die Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums in Osteuropa um 1900 in erster Linie den progressiven Gruppen zuzuordnen sind, und umgekehrt, dass diese Gruppen fast ausschließlich von Mitgliedern des assimilierten jüdischen Mittel- und Großbürgertums dominiert wurden, ist weit verbreitet. Einer der wichtigsten Dienste Gantners Arbeit ist es, diese Annahme kritisch zu hinterfragen, zu [End Page 716] widerlegen und mit dem Begriff „diversity" auf die Heterogenität dieser intellektuellen Gruppen aufmerksam zu machen. Ihre Analyse zeigt einerseits, dass sich an der „progressiven Bewegung" zahlreiche nichtjüdische Intellektuelle, ja sogar Adlige beteiligten, und andererseits, dass dort neben dem assimilierten jüdischen Mittel- und Großbürgertum auch—in sozialer Hinsicht—aus Peripherie-Verhältnissen kommende ungarisch-jüdische Bürger vorhanden waren.

Die Analyse der Emigrationszeit zeigt, dass die bereits vor dem Ersten Weltkrieg gesammelten Studienerfahrungen an deutschen Universitäten Berlin zu einem plausiblen Ort der Emigration für die ungarisch-jüdische Intelligenz machten. Die politische Lage und die starken sozialdemokratischen und kommunistischen Gruppierungen verstärkten diese Anziehungskraft noch zusätzlich. Unter diesen Umständen—schreibt Gantner—ist es kein Wunder, dass die Zeit in Berlin für die meisten Emigranten eine „sehr lehrreiche und aktive Schaffensperiode" war.

Transfergeschichte, Vergleich, Histoire Croisée („entangled history") sind heutzutage modischer denn je, aber die Zahl der empirischen Untersuchungen ist immer noch gering. Das Fehlen solcher Arbeiten ist aber kein Zufall. Eines der wichtigsten Erfordernisse ist, dass man oft mindestens zwei unterschiedliche geschichtswissenschaftliche Traditionen kennen und verbinden muss. Ganter meistert diese Aufgabe auf hohem Niveau. Sie stellt die Debatten der ungarischen Geschichtswissenschaft präzise vor, und schildert die Ereignisse der Jahrhundertwende in Ungarn ausführlich. Diese sehr wichtige und auch nötige „Vorstellungs- und Übersetzungsarbeit" wird aber auch zum Verhängnis; mehr als 70% des Buches dienen deswegen als quasi „Einleitung" und nur 60 Seiten von 264 widmen sich der Analyse des eigentlichen Themas.

Die von Gantner untersuchten Phänomene, besonders die Zeit der Räterepublik, waren in Ungarn bis zur Wende der 1980er Jahre ein politisiertes und ideologisiertes Feld. Das kommunistische Regime hat in der Räterepublik ihren direkten Vorfahren gesehen. Der Tag der Revolution (21. März) war offizieller Feiertag, es wurden Romane und Filme gemäß der staatlichen Linie produziert. Die Beschäftigung mit diesem Thema gab kaum Möglichkeit zur wissenschaftlichen Analyse. Wahrscheinlich führten diese Bedingungen dazu, dass die Geschichte der Räterepublik und ihrer leitenden Personen nach 1989 (bis heute) kaum von Historikern behandelt wurden. Diese Tatsache beeinflusst auch die Nutzung der Quellen und der Sekundärliteratur. Die meisten der geschichtswissenschaftlichen Analysen wurden vor 1989 verfasst und müssen deswegen kritisch behandelt werden. Noch schwerwiegender ist dieses Problem bei den untersuchten Memoiren, Erinnerungen und Interviews. Der größere Teil der vorhandenen und benutzten Egodokumente wurde erst nach 1945 auf den Wunsch des Parteihistorischen Instituts (Párttörténeti Intézet) geschrieben und durch die Mitarbeiter des Instituts redigiert. Die Sammlung und die Redaktion dienten in erster Linie nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern das Ziel war die [End Page 717] Unterstützung der Parteipropaganda. Dieses Problem schildert und konstatiert auch Gantner, aber die Ergebnisse dieser Quellenkritik fließen kaum in die Analyse ein.

Zu den besten Teilen des Buches gehören die Abschnitte, in denen Gantner die in der ungarischen Geschichte und Geschichtswissenschaft sehr wichtige „Judenfrage" (d.h. die Rolle des ungarisch...

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