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  • Vom Abschweifen und Antizipieren. Die Aufführung als Vorstellung von Zukunft
  • Benjamin Wihstutz

Benjamin Wihstutz betrachtet in seinem Essay aus einer phänomenologischen Perspektive das Verhältnis von Antizipation und Imagination des Theaterzuschauers. Es geht um die Frage, inwiefern Aufführungen ästhetische Erfahrungen von Zeitlichkeit und Potentialität ermöglichen, die auf einer Ebene des Imaginativen die Aufführung als schöpferische Vor-stellung von Zukunft erfahren lassen. Mit Bezug auf Jürgen Goschs Inszenierung von Wer hat Angst vor Virginia Woolf..? und insbesondere auf zwei Performances von Forced Entertainment wird untersucht, auf welche Art und Weise Zukünftiges im Zusammenspiel von Inszenierung und Zuschauerimagination entsteht und dem Zulaufen der Aufführung auf ihr unwiderrufliches und gewisses Ende dabei eine entscheidende Rolle zukommt. Unter Heranziehung von Heideggers Begriffen der Sorge und des Vorlaufens in den Tod wird in dieser Hinsicht nicht zuletzt danach gefragt, inwieweit bestimmte Inszenierungsstrategien, welche die Vergänglichkeit der Aufführung selbst ins Rampenlicht rücken, die Endlichkeit des Daseins auf besondere Weise reflektieren lassen.

Das Theater lebt nicht allein von der Präsenz und Repräsentation des Dargestellten. Auf einer Zwischenebene des Imaginativen entfaltet die Aufführung zugleich ein Theater der Einbildung: das Abschweifen, Assoziieren, Phantasieren, Erinnern und Antizipieren gehört aus der Sicht des Zuschauers genauso zum Theatererlebnis wie Schauspiel, Bühnenbild oder dramatische Hand-lung. So wie der Schauspieler die Einbildungskraft bereits im Probenprozess nutzt, um sein Spiel der Vorstellung einer zukünftigen Aufführung anzugleichen und die Antizipation auch während der Aufführung selbst in entscheidendem Maße an seinem Spiel beteiligt ist, impliziert auch die Zuschauerwahrnehmung ein zeitliches Vorgreifen der Einbildungskraft, das als Antizipation oder Erwartung Zukunft imaginativ entstehen lässt.

Die folgenden Überlegungen gehen von der Hypothese aus, dass sich die Aufführung aus der Sicht des Zuschauers in zweierlei Hinsicht als Vorstellung von Zukunft begreifen lässt: Zum einen handelt es sich um ein grundlegendes imaginatives Vorgreifen der Wahrnehmung, das sich im Nachhinein entweder als antizipatorisch oder als Erwartung einer imaginären, nicht-eintretenden Zukunft entpuppt. Zum anderen vermag die Aufführung als singuläres und ästhetisch hervorgehobenes Ereignis Zeitlichkeit an sich zu reflektieren und damit in der ästhetischen Erfahrung eine Vorwegnahme zu ermöglichen, die Heidegger in Sein und Zeit in Bezug auf das “Sein zum Tode” als “Sich-vorweg-Sein” bzw. “Vorlaufen” der Sorge bestimmt hat.1 Mit dem bevorstehenden Ende einer Aufführung lässt sich die Gewissheit eines existenziellen Endes performativ in Szene setzen und für den Zuschauer antizipatorisch erfahren. In beiden Fällen kann die Aufführung als ‘Vorstellung’ begriffen werden: einerseits als Vorgreifen der Wahrnehmung, andererseits als ‘Vorlaufen in den Tod’.

Herbert Blau bringt die Bedeutung der Imagination im Theater mit der Behauptung auf den Punkt: “The brain is the best stage of all”2. Für die Wahrnehmung des Zuschauers [End Page 45] bedeutet dies jedoch vor allem: The brain is the first stage of all. Imaginativ ist der Zuschauer der Gegenwart der Aufführung immer schon voraus, seine Einbildungskraft sucht stets nach passenden Bildern der Zukunft, die die gegenwärtigen Sinneseindrücke ergänzen und ihnen ihre spezifische Bedeutung verleihen. Das schöpferische Potenzial der Phantasie korrespondiert dabei unmittelbar mit dem Vorausgreifen der Wahrnehmung – die vorgestellte Zukunft entsteht zwischen Phantasie und Erwartung, zwischen dem Abschweifen und dem Anti-zipieren.

Grundsätzlich lassen sich zwei Arten des Vorgreifens differenzieren, die eng aufeinander bezogen sind: Während von ‘Erwartungen’ bereits vor dem Eintreten der vorgestellten Zukunft gesprochen werden kann, lässt sich in der Regel immer erst ex-post feststellen, ob es sich um eine ‘Antizipation’ handelt.3 Folglich ist jede Antizipation mit Erwartungen verbunden, keinesfalls aber ist jede Erwartung antizipatorisch. Viele Erwartungen treten nicht ein, viele Vorstellungen der Zukunft bleiben imaginär und werden niemals gegenwärtig. Hingegen betreffen Antizipationen das Vorspüren einer tatsächlich eintretenden Zukunft, sie implizieren ein verkörpertes Wissen des Zukünftigen, das unweigerlich Gegenwart werden wird.

In wenigen Ausnahmefällen kann allerdings bereits vom Antizipieren gesprochen werden, wenn die antizipierte Zukunft noch nicht zur Gegenwart geworden ist. Dies betrifft all jene Fälle, bei denen absolute Gewissheit über das Eintreten des Vorausgesehenen herrscht. Das Voraussehen des Zeitpunkts, zu dem die vorgestellte Zukunft gegenwärtig werden...

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