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Die Strasse in der Alltagswahrnehmung russischer Bauern des 17. Jahrhunderts
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Rude & Barbarous Kingdom Revisited: Essays in Russian History and Culture in Honor of Robert O. Crummey. Chester S. L. Dunning, Russell E. Martin, and Daniel Rowland, eds. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2008, 341–51. Die Strasse in der Alltagswahrnehmung russischer Bauern des 17. Jahrhunderts Carsten Goehrke Zum Bild des „Rude and barbarous kingdom“, welches die westeuropäischen Reiseberichte vom Moskauer Reich der frühen Neuzeit entwerfen,1 tragen ganz wesentlich die Modalitäten des Reisens2 bei: Endlose Naturstrassen, auf 1 Für das 16. Jahrhundert s. Rude and Barbarous Kingdom: Russia in the Accounts of Sixteenth-‐‑Century English Voyagers, ed. Lloyd E. Berry and Robert O. Crummey. Madison: University of Wisconsin Press, 1968. – Für das 17. Jahrhundert s. in zeitlicher Reihenfolge beispielsweise Dnevnik Mariny Mnishek. St. Peterburg: Dmitrii Bulanin, 1995 (aus dem Polnischen); Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung Der Mus-‐‑ cowitischen und Persischen Reyse. Schleswig 1656; repr. Tübingen: Niemeyer, 1971; Andrej Rode, Opisanie vtorogo posol’stva v Rossiiu datskogo poslannika Gansa Ol’de-‐‑ landa v 1659 godu. In: Utverzhdenie dinastii. Moscow: RITA-‐‑Print, 1997, S. 9–42; Pute-‐‑ shestvie v Moskoviiu barona Avgustina Meierberga … k tsariu i velikomu kniaziu Alekseiu Mikhailovichu v 1661 godu, opisannoe samim baronom Meierbergom. In: Utverzhdenie dinastii. S. 43–184 (Übersetzung aus dem lateinischen Originaltext); Nicolaas Witsen, Moscovische Reyse 1664–1665. Journaal en aentekeningen. Uitgege-‐‑ ven door Th.J.G. Locher en P. de Buck. Deel 1–3. ’s-‐‑Gravenhage: Martinus Nijhoff, 1966/67 (unzureichende russische Übersetzung: Nikolaas Vitsen, Puteshestvie v Mos-‐‑ koviiu 1664–1665. Dnevnik. Perevod so starogollandskogo V. G. Trisman [St. Peter-‐‑ burg: Symposium, 1996]); Posol’stvo Kunrada fan-‐‑Klenka k tsariam Alekseiu Mikhai-‐‑ lovichu i Feodoru Alekseevichu. St. Peterburg, 1900 (holländischer Text und russische Übersetzung); J. G. Sparwenfeld’s Diary of a Journey to Russia 1684–87, ed. and trans. Ulla Birgegård. Stockholm: Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien, 2002 (schwedischer Text und englische Übersetzung); Johann Georg Korb, Tagebuch der Reise nach Russland. Hg. und eingeleitet von Gerhard Korb. Graz: Akad. Druck-‐‑ und Verlagsanstalt, 1968 (deutsche Übersetzung des lateinischen Originaltextes). 2 Zum Strassenwesen, Postdienst und Reiseverkehr Russlands in der frühen Neuzeit: E. G. Istomina, Dorogi Rossii v XVIII – nachale XIX veka. In: Issledovaniia po istorii Rossii XVI–XVII vv. Sb. statei v chest’ 70-‐‑letiiu Ia. E. Vodarskogo. Moscow: RAN, 2000, S. 181–208; L. M. Marasinova, Puti i sredstva soobshcheniia. In: Ocherki russkoi kul’-‐‑ tury XVIII veka, chast’ pervaia. Moscow: Izd. Moskovskogo universiteta, 1985, S. 257– 284; A. S. Kudriavtsev, Ocherki istorii dorozhnogo stroitel’stva v SSSR (dooktiabr’skii period). Moscow: Dorizdat., 1951, S. 78–132; A. N. Vigilev, Istoriia otechestvennoi pochty, 2-‐‑e izdanie, pererab. i dopoln. Moscow: Radio i sviaz’, 1990; Frank Joyeux, Der Transitweg von Moskau nach Daurien: Sibirische Transport-‐‑ und Verkehrsprobleme im 17. Jahrhundert. Phil. Diss. Universität Köln. Köln, 1981; O. N. Kationov, 342 CARSTEN GOEHRKE denen man während der „Zeit der Wegelosigkeit“ (rasputitsa) im Schlamm versank – wenn im Frühjahr der Schnee taute und im Herbst erste Fröste und erneutes Tauwetter sich abwechselten –, aber bei anhaltendem Regen auch des Sommers; auf sumpfigen Wegstrecken Knüppeldämme, welche den Wagen derart durchrüttelten, dass die armen Insassen vermeinten, alle Knochen zu brechen; trotz besseren Fortkommens auf schneebedeckten und gefrorenen Strassen im Winter auf abschüssigen Strecken umstürzende Schlit-‐‑ ten oder Schneewehen, in welchen man stecken blieb.3 Auch Bauern traten in das Blickfeld der Reisenden, insoweit sie Gespanndienste zu leisten hatten oder vor den Fremden Reiss aus nahmen. Dabei registrierten die Ausländer mit ihrem an eine andere Kultur angepassten Blick4 sehr wohl, wie unpopulär die vom Staat erzwungenen Gespanndienste bei den Bauern waren und wie brutal sie von den Vertretern der Obrigkeit dabei behandelt wurden. Aber dies war die Perspektive des fremden Blicks, des Blicks von aussen. Wie die Bauern selber, aus ihrer Alltagsperspektive heraus die Strasse erlebten – als Bestandteil ihres Wirtschaftslebens, ihres Sprachhorizontes, als Element der gesellschaftlichen Kommunikation, als Last, aber auch als Chance zugleich – ist bislang kaum untersucht worden.5 Diesen Fragen soll mein Essay gelten, ohne dass ich dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben möchte. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf das 17. Jahrhundert. Dass die dichter besiedelten Regionen des Moskauer Reiches von einem regelrechten Geäder aus Naturstrassen durchzogen waren, zeigen die Karten-‐‑ skizzen (chertezhi), die sich vor allem aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-‐‑ derts erhalten haben. Es sind dies in der Regel grobe, nicht massstabgerechte Faustzeichnungen, welche Besitzgrenzen oder die Grenzen von Dorfgemark...