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17. Ein neues Kapitel in der Geschichte des kirchlichen Strafrechts: Die Systematisierungsbemühungen des Bernhard von Pavia (†1213)
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[17] Ein neues Kapitel in der Geschichte des kirchlichen Strafrechts Die Systematisierungsbemühungen des Bernhard von Pavia († 1213) Lotte Kéry n In dem Jahrhundert zwischen der Entstehung des Decretum Gratiani (um 1140) und der Publikation der großen Dekretalensammlung Papst Gregors IX., des Liber Extra (1234), wurden nicht nur die entscheidenden Weichenstellungen für eine Emanzipation des Kirchenrechts als Wissenschaft vorgenommen, sondern auch für eine systematische Behandlung des kirchlichen Strafrechts als eigenständige und klar abgegrenzte Rechtsmaterie.1 WieschonStephanKuttnerinseinergrundlegendenUntersuchungzur strafrechtlichen Dogmatik dargestellt hat, legten die Dekretisten und frühen Dekretalisten das Fundament für eine autonome Stellung des kirchlichen Strafrechts, indem sie eine Lehre von der strafrechtlichen Schuld entwickelten, zu deren Voraussetzungen auch die Abgrenzung strafrechtlich relevanter Verbrechen zur Sünde gehörte.2 Um das sehr anschauliche Bild Kuttners aufzugreifen, bedurfte es ‘eines praktikablen Rechtsbegriffs, der das rechtlich relevante und fassbare Verbrechen vom grenzenlosen Reich der Sünde schied’.3 229 1. S. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. Systematisch auf Grund der handschriftlichen Quellen dargestellt (Studi e Testi 64; Città del Vaticano 1935) vi. 2. Kuttner, Schuldlehre 3–22 (zum ‘Verbrechensbegriff der Kanonistik’). 3. Kuttner, Schuldlehre 4; dazu auch L. Kéry, ‘Aspekte des kirchlichen Strafrechts im Liber Extra (1234)’, in: Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, ed. H. Schlosser und D. Willoweit (Köln, Weimar und Wien 1999) 241–97, hier 242–45; L. Kéry, ‘La culpabilité dans le droit canonique classique de Gratien (vers 1140) à Innocent IV (vers 1250)’, in : La culpabilité. Actes des XXes Journées d’Histoire du Droit, 4–6 octobre 2000, ed. J. HoareauDodineau und P. Texier (Limoges 2001) 429–44, hier 431–35. 230 Lotte Kéry Für die in den letzten Jahren wieder vermehrt aufgegriffene Diskussion über die Entstehung des öffentlichen Strafrechts ist die Frage nach dem Anteil des Kirchenrechts , das offenbar auch auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle übernommen hat, aus mehreren Gründen von zentraler Bedeutung.4 Dazu zählt unter anderem die Feststellung , daß die Kanonistik als Bestandteil des gelehrten Rechts einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung der neu aufkommenden Strafrechtslehre geleistet hat, und zwar nicht nur in materieller Hinsicht zur Kriminalisierung abweichender Verhaltensweisen und deren Erfassung durch die Gesetzgebung, sondern auch auf einer allgemeineren Ebene für die Emanzipation des Strafrechts als einheitlicher Rechtsmaterie.5 Spätestens seit der umstrittenen Untersuchung von Viktor Achter über die ‘Geburt der Strafe’ wird eine klare Unterscheidung zwischen Buße und Strafe als einer der deutlichsten Anhaltspunkte für die Existenz eines öffentlichen Strafrechts betrachtet.6 Während vor diesem Hintergrund und zwecks einer stark vereinfachenden Richtungsbestimmung die Buße im Sinne von compositio und Ausgleich zwischen Täter und Opfer als das ältere Modell einer Konfliktregelung zwischen den Parteien anzusprechen ist, hat die Strafe im Gegenzug als Ausdruck für die Verwirklichung eines öffentlichen Anspruches der Gemeinschaft auf die Sanktionierung von Fehlverhalten zu gelten.7 ImHinblickaufeinegenauereBestimmungdesBeitrags,dendaskirchlicheStrafrecht zur Ausbildung eines öffentlichen Strafrechts geleistet hat, ist deshalb die Frage zu stellen , seit wann in diesem Rechtskreis eine solche klare Unterscheidung zur Anwendung gelangt. Eine Antwort darauf wird durch die Beobachtung erschwert, daß der Begriff der Buße im kirchlichen Bereich noch vor der rechtlichen eine umfassendere moraltheologische und pastorale Bedeutung aufweist und gerade die Buße im kirchenrechtlichen Sinne unter bestimmten Voraussetzungen die Funktion einer Strafe übernimmt.8 Als ein deutliches Indiz kann in diesem Zusammenhang vor allem die klare begriffliche Unterscheidung von Buße und Strafe betrachtet werden. Es ist also zu fragen, seit wann in den kirchenrechtlichen Quellen eine Systematik geboten wird, die für Buße und Strafe von unterschiedlichen gedanklichen Konzepten ausgeht und dies durch die systematische Anordnung und Behandlung zum Ausdruck bringt. Eine solche auch äußerlich erkennbare neue Phase in der Geschichte des kirchlichen 4. Vgl. das Exposé von D. Willoweit, ‘Programm eines Forschungsprojekts’, in: Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems, ed. idem (Köln, Weimar und Wien 1999) 1–12. 5. Willoweit, ‘Forschungsprojekt’ 5. 6. V. Achter, Geburt der Strafe (Frankfurt/M. 1951). 7. Vgl. E. Kaufmann, ‘Buße’, HRG 1 (1971) 575–77; zur historischen Entwicklung des Begriffes mit zahlreichen Textnachweisen H. Nehlsen, ‘Buße (weltliches Recht) II. Deutsches Recht’, LMA 2 (1983) 1144–49. 8. G. A. Benrath, ‘Buße V (Historisch)’, TRE 7 (1981) 452–73; C. Vogel, ‘Buße D [2]’, LMA 2 (1983) 1131–36; Kéry, ‘Liber Extra’ 253–54. Ausführlicher demnächst L. Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe (Köln, Weimar und Wien 2006) Kap...