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Reviewed by:
  • Stellvertretung. Zur Szene der Person by Katrin Trüstedt
  • Arne Höcker
Stellvertretung. Zur Szene der Person. By Katrin Trüstedt. Konstanz: Konstanz University Press, 2022. Pp. 431. Cloth €38.00. ISBN 978-3835391437.

“Was heißt es, für andere zu sprechen? Was, wenn für einen gesprochen wird?” Der Umschlagtext des vorliegenden Buches von Katrin Trüstedt ist so kurz wie prägnant: in wenigen Worten wird hier umrissen, was in der als Habilitationsschrift verteidigten Studie auf dem Spiel steht und zugleich werden Bezüge aufgerufen, mit denen das umfangreiche literaturhistorische Forschungsprojekt an aktuelle Konstellationen und Debatten anzuschließen gedenkt. Es liegt auf der Hand an gegenwärtig gerade in den USA mit Vehemenz geführte Auseinandersetzungen über kulturelle Aneignung und identitätspolitische Positionen zu denken, sowie an die an postkolonialen Theorien geschulten Diskussionen über die Notwendigkeit der Dekolonialisierung akademischer Institutionen. Auch wenn Trüstedts Buch Antworten auf diesbezügliche aktuelle Fragen schuldig bleibt und mit dem wiederholten Verweis auf Gayatri Spivaks immerhin schon 1988 erschienenen Aufsatz “Can the Subaltern Speak?” der Gegenwart etwas hinterherzulaufen scheint, so wird mit dem Begriff der Stellvertretung ein attraktives [End Page 335] Angebot gemacht, Probleme der Fürsprache, Parteinahme und Advokation neu und produktiv zu denken. In paradigmatischen Einzellektüren größtenteils kanonischer Texte, die von der antiken Rhetorik und Tragödie über Shakespeare zu Schiller, Kleist und schließlich Joyce und Kafka führen, wird Stellvertretung als eine Differenzfigur entworfen, die der als zu einseitig und statisch empfundenen Repräsentationslogik eine dynamische Konstellation von Darstellung und Dargestelltem, Vertretung und Vertretenem entgegensetzt. Stellvertretung wird von Trüstedt als eine dynamische Szene verstanden, in der die beteiligten Instanzen “durch den Akt des Ver-tretens erst als solche konstituiert” werden. Damit reagiert “die Kulturtechnik” der Stellvertretung auf eine dem neuzeitlichen Rechtsbegriff der Person inhärente Spannung, die sich in der Moderne in die irreduzible Spaltung der Person übersetzt, einerseits autonomes, souveränes und unbedingtes Subjekt sein zu sollen, andererseits aber nur in einem immer schon vorgegebenen institutionellen Rahmen (sozial, politisch, rechtlich) existieren zu können.

Die Vorgeschichte der Stellvertretung—ihre “Urszene”—finde sich Trüstedt zufolge im Theater, dem Gericht und der Rhetorik der Antike, was im ersten Kapitel des Buches anhand von Aischylos’ Orestie, Gorgias’ Lobpreis der Helena und Ciceros sowie Quintilians Gerichtsrhetoriken vorgeführt wird. Im weiteren Verlauf der Studie und mit Fokus auf die Neuzeit und Moderne konzentriert sich Trüstedt auf insbesondere drei Bereiche, in denen Stellvertretung sich formal niederschlage: im Recht als Einhegung und Eingrenzung der Stellvertretung, insbesondere über die Logik der Zurechnung; in der Theologie, wo die Einheit der Differenz von Stellvertretung betont wird und der Stellvertreter die Stelle der Person erst setzt; und schließlich in der Literatur, wo die Aporien von Stellvertretung nicht aufgelöst, sondern reflexiv durchgespielt würden. Heben die Inszenierungen der Stellvertretung im Recht und der Theologie jeweils konträre Perspektiven der Vertretungslogik hervor—dort das Auseinandertreten von Vertretenem und Vertretung, hier ihre Einheit—so wird der Literatur in Trüstedts Studie eine privilegierte Rolle zugeschrieben. Die Literatur ist dabei nicht nur bevorzugtes Medium der Stellvertretung, sie wird hier zudem selbst als Stellvertreterin in Szene gesetzt, die als solche die Komplexität von Stellvertretungen in Institutionen wie dem Recht, der Rhetorik, der Theologie und der Philosophie vorführt.

Diesem Modell liegt ein emphatischer Literaturbegriff zugrunde, der in dieser Studie jedoch kaum hinterfragt wird. Und gleiches muss auch über die Auswahl der literarischen Texte gesagt werden, die Trüstedt als paradigmatische Fälle von Stellvertretung diskutiert. Wer sich im akademischen Umfeld der Autorin ein wenig auskennt, wird sich über die Auswahl nicht wundern. Doch kann das als Rechtfertigung kaum reichen. Zumal sich über die Begründung der literarischen Konstellationen, die hier gewählt wurden, vielleicht auch ein differenzierterer Literaturbegriff hätte ergeben [End Page 336] können, mit dem sich über den institutionellen Status hätte nachdenken lassen, der der Literatur in der Moderne als Medium von Subjektivierungsweisen selbst zukommt.

Die drei zentralen Kapitel des Buches folgen jeweils einer literarischen Gattung in ihrem Bezug zur Stellvertretung: das Theater, die Novelle, der Roman. Jede dieser Gattungen wird in ihrem Bezug zu einer institutionellen Technik gelesen: anhand von Shakespeares Theater wird die rhetorische Figur...

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