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  • Vom Bildstimulus zur Emotion AIZur Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit technischer Affektbilder
  • Anna Tuschling

Die Wissenschaft produziert und verarbeitet seit jeher Bilder, die nicht nur zu Illustrationszwecken dienen, gleichgültig, ob es sich dabei um den historischen Bestand an Zeichnungen biologischer oder technischer Objekte, um die neueren Computersimulationen oder den vielfachen Einsatz von Fotografien handelt (vgl. Rheinberger; Weigel; Galison). Aus dieser Bilderfülle greift der folgende Beitrag die wissenschaftlichen Fotografien der Emotionspsychologie heraus. Diese spezielle Art der wissenschaftlichen Fotografie in der Emotionsforschung hat im Vergleich zu anderen Fällen, wie etwa den Aufnahmen aus der Psychiatrie (vgl. Didi-Huberman) und Evolutionsbiologie (vgl. Prodger; Voss), lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Für die Klassifikation, das Rating und das Computing der Emotion im Sinne körperlicher Erscheinungen sind technische Affektbilder jedoch ausschlaggebend gewesen. Sie spielen bei der Entwicklung der Emotion AI und des Affective Computings eine immer noch zu wenig beachtete Schlüsselrolle für die technische Identifikation einzelner Affekte, die hier herausgestellt werden soll.

Was ist ein technisches Affektbild?

Der Begriff des Affektbildes ist von Gilles Deleuze in seinen Arbeiten über den Film nachhaltig geprägt worden. In seiner Taxonomie des Kinobildes hat das Affektbild zunächst die Funktion, eine Bildreihe [End Page 443] zu unterbrechen und auch zu steigern. Hierfür steht exemplarisch die Großaufnahme des Gesichts, die einer Intensivierung der Bildfolge entspricht: „Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht" (123). Deleuze verändert in seiner Engführung von Henri Bergsons Philosophie mit der Funktionalität bestimmter Kinobilder den Begriff des Affekts sowie die Vorstellung des Gesichts. Beide werden in einer Idee des Ausdrucks, und zwar sowohl bildlich als auch zeichentheoretisch, miteinander verbunden:

Der Affekt existiert nicht unabhängig von etwas, das ihn ausdrückt, auch wenn er sich völlig von ihm unterscheidet. Was ihn ausdrückt, ist ein Gesicht, das Äquivalent eines Gesichts (ein in ein Gesicht verwandeltes Objekt), oder sogar ein Satz, wie wir später sehen werden.

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Im Folgenden wird der Begriff des Affektbildes jedoch nicht im Anschluss an die Filmtheorie und ihre postkinematographischen Weiterentwicklungen (vgl. Åkervall) verwendet, sondern in einer begrenzteren, technischeren Art und Weise. Mit technischen Affektbildern werden an dieser Stelle die in der Emotionspsychologie verwendeten visuellen Stimuli und Bildserien bezeichnet. Anders als das Affektbild nach Deleuze bestimmen sie sich nicht als Teil einer kinematographischen Bilderfolge, sondern durch die quantitative Auswertung der Bildbetrachtungen. In Kaskaden von Experimenten hat die Emotionspsychologie, die, einem Testtrieb folgend (vgl. Ronell), vornehmlich eine Wissenschaft des Verhaltens ist, diese Bilder seit dem neunzehnten Jahrhundert ihren Versuchspersonen zu sehen gegeben. Technische Affektbilder werden in den Experimenten der Verhaltensforschung, der Affective Science und der Emotionspsychologie dazu eingesetzt, um gezielt etwas in den Betrachter*innen auszulösen, das im Vokabular dieser Wissenschaften emotionale Reaktion heißt. Diese Reaktion wird mit diversen technischen und jetzt vor allem digitalen Mitteln wie Kameras, Eye Tracking, EEG, EKG und weiteren Sensoren sowie Selbstauskünften aufgezeichnet und eingeordnet. Emotionen und Affekte definiert die Psychologie spätestens seit William James vorwiegend als etwas, das eine körperliche und/oder kognitive Antwort, oder, in der Sprache der Verhaltensforschung, eine Reaktion auf ein Objekt in der Umwelt sein soll. Durch das Vorlegen solcher Objekte—die auch Bilder oder Filme sein können—erhält die Psychologie die Erscheinungen oder emotionalen Reaktionen, denen sie im Experiment auf den Grund gehen will.

Verhaltenswissenschaft und Emotionspsychologie benötigen für ihre Konzeption von Emotion und Affekt jedoch nicht nur einzelne Stimuli, sondern einheitliche Datenbanken und Bildsysteme. Diese [End Page 444] Datenbanken enthalten Bilder verschiedener Objekte und Szenen, um im Experiment das ganze Spektrum affektiver Reaktionen auslösen zu können. Auf den Bildern sind Kirchenfenster, schreiende Kinder, Plastikflaschen, lächelnde und leidende Erwachsene, Schlangen, Tote, Eicheln, Gartenzäune und vieles mehr zu sehen. Technische Affektbilder—konkret also analoge, digitalisierte und digitale Fotografien—zeigen die unterschiedlichsten Dinge, aber ihre wesentlichen Charakteristika bleiben unsichtbar: Der Betrachtung entzieht sich erstens, dass solche Bilder Teil eines experimentellen Systems sind; zweitens, dass sie standardisiert wurden; und drittens, dass sie in der Verhaltensforschung, der Psychologie und neuerdings auch in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) als Bildreize oder Stimuli dienen. Technische Affektbilder sind Bestandteil wissenschaftlicher Datenbanken wie der des International Affective Pictures Systems...

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