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  • Hermann Broch und die Menschenrechte. Anti-Versklavung als Ethos der Welt by Paul Michael Lützeler
  • Martin A. Hainz
Paul Michael Lützeler, Hermann Broch und die Menschenrechte. Anti-Versklavung als Ethos der Welt. Berlin: Walter de Gruyter 2021. 288 S.

Es gibt kaum einen, der so belesen, so umsichtig zu Hermann Broch spricht, wie es Paul Michael Lützeler seit Jahren tut. Nun liegt ein Band vor, der den Theoretiker Broch vorstellt, und zwar einen Theoretiker des Menschenrechts, der, wie Lützeler rechtens bemerkt, in den Diskursen der Gegenwart zu diesem [End Page 180] Thema “nicht vor(kommt),” doch in “mancher Hinsicht [ . . . ] weitsich-tiger als die anderen Teilnehmer*innen am Menschenrechtsdiskurs” (X) gewesen sein dürfte.

Das Generalthema dabei ist eine Formulierung Brochs aus dessen Massenwahntheorie, die in den Untertitel der Studie einging: “Demokratie ist Anti-Versklavung” (KW12, 563; zit. 8). Eine Demokratie ist damit verpflichtet, in sich, aber auch um sich Privilegien zu erkennen und abzubauen, insofern diese die Freiheit derer relativieren, die nicht privilegiert sind—ein “Universalismusgedanke[n],” “provoziert durch rechts- und linksradikale politische Bewegungen, die dem aufgeklärten Autonomie-, Toleranz und Universalismusgedanken den Kampf angesagt hatten.” (8) Insofern ist Broch ein Reaktionär, doch seine Reaktion ist progressiv.

Versklavung, auch geduldete, ist illegitim, hierzu formuliert Broch eine Art Weltethos, das Broch mit dem Hans Küngs vergleicht: Die “»Gleichheit des Menschen vor Gott« [ . . . ] ist nach Broch die Entdeckung des »Christentums«” (19), die als Entdeckung aber über dieses hinaus gültig ist: als Entdeckung keine Glaubenssache. Darum fasziniert auch Vergil den Autor, jener sei “ein Auserwählter [ . . . ] zu Christus hin” (150) gewesen, wie Lützeler mit Haecker schreibt. Die Dringlichkeit dieser Position zeigt sich bis in die Gegenwart, immer wieder weist Lützeler nicht nur auf ähnliche Befunde anderer hin, solche, die Broch kannte, solche, die parallel entstanden, und solche, die in der Gegenwart formuliert werden, sondern auch auf die Realität, die daneben so trist ist.

Dabei ist Broch anders als viele einer, der nicht vorgibt, er wüsste, wie das zu erreichen sei: und was genau. “Krise folgte auf Krise,” wobei sich aber zeigt, dass die Lösungen die Krisen von morgen sind, zumal, wo die Lösung ein “Rückfall in das Sklaventum” (KW11, 82; zit. 43) wäre: in den “totalitären Kommunismus” oder den “Nationalsozialismus” (KW11, 83/86; zit. 43). Broch ist also ein akkurater Analytiker der korrodierenden Werte in einer Zeit, die Religions- und Sinnverlust nicht als Chance sieht, und zwar wie angedeutet auch eine religiöse oder metareligiöse. Er verfolgt auch die ökonomischen Theorien, die wenigstens Anteil am Problem haben, von Adam Smith bis Hayek, wie Lützeler skizziert. Diese Theorien—und diese Ökonomien—begünstigen den Typus des “Faiseur(s),” der sich “als Macher und Schwindler” (51) bereichert und in solche “historische[n] Fehlsituationen” (KW11, 488; zit. 51) investiert, die ihm das noch mehr zu tun gestatten. Um ihn sind die Schlafwandler, die Broch in seiner Trilogie, [End Page 181] die er 1930 bis 32 verfasste, beschreibt: Opfer und Mittäter in einer Zeit der orientierungslosen Faktenscheue. Freilich kann man dieses Konzept der Schlafwandler, die in den Totalitarismus und den Krieg geraten, ohne zu merken, dass sie all dem lange Vorschub leisteten, einwenden, dass es verharmlosend ist—verwiesen sei auf Stephen Kotkin: Wie sollte man auch nur Pferde an die Grenze (und zukünftige Front) beordern, samt Futter etc., ohne zu wissen, dass das nur einem Zweck dienen könne? (https://www.youtube.com/watch?v=rcE3jaMuuy8 [Stand: 29.8.2021]).

Gegen diese Existenzform, die Broch annimmt, stehen jedenfalls die “Menschenrechte,” die für jene, die über die Möglichkeit verfügen, “Menschenpflichten” sind: auf “innerstaatliche Humanität” (70), aber auch auf “Kriegsverhütung,” da Krieg “Menschenentwürdigung” (71) ist. Broch ahnt, dass das jene Interventionen, die es fordert, zugleich verbietet, in einem seiner Texte spricht er von “Irrealutopien” (Hermann Broch, “Die Intellektuellen und der Kampf um die Menschenrechte.” In: Literatur und Kritik, 54–55, Mai/Juni 1971: 194). Lützeler schreibt, das “intendierte[s] Manifest,” worin Broch diese Forderungen stellt, sei “noch zu abstrakt” (71). Tatsächlich ist die Realität die permanente Komplikation: Beispielsweise war “Broch [ . . . ] vom deutschen Widerstand beeindruckt”—doch durchaus im Gegensatz...

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