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Reviewed by:
  • Leseszenen. Poetologie—Geschichte—Medialität ed. by Irina Hron et al.
  • Martin A. Hainz
Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte, Hrsg., Leseszenen. Poetologie—Geschichte—Medialität. Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 407. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2020. 654 S.

Seit Wolfgang Iser sich die Frage stellte, wie der implizite Leser aussehen möge, versteht sich, dass dieser implizite auch ein idealer sein mag und es ihn—wie alles Ideale—also nicht gibt, es sei denn als Denkfigur. Sie aber legt herausfordernd Lese(r)forschung nahe, also der Frage nachzugehen, was ein Leser wisse, wissen könne, wissen müsse, ein Problem, das besonders scharf in den Celan-Studien auch Peter Szondi formulierte, als er kommentierend sein sehr spezielles Wissen zur Entstehung von Du Liegst vorlegte, ohne zu übersehen, dass dieses Wissen eben schwerlich vorausgesetzt werden könne. Man kann es wie im Geleitwort zum anzuzeigenden Band Konstanze Fliedl aber auch genau andersrum beginnen, von der Frage ausgehend, wie Leser zu denken seien, wenn Germanistikstudierende vor allem Fifty Shades of Grey lesen, oft auch, ohne zu bedenken, dass sie das Buch (meist) in Übersetzung lesen, aber kaum Referenztexte kennen, an die sich anknüpfen ließe (9).

Ganz so niederschmetternd ist der Band dann aber nicht, der sich darauf entfaltet, vielmehr in zahlreichen Schilderungen und Reflexionen von Leseszenen eine Liebeserklärung an den Rückzug in die Bibliothek und jeden Schatz, den sie birgt. Ausgangspunkt des Bandes ist dabei eine Konferenz der Franz Werfel-Stipendiaten gewesen, die sich 2018 an der Universität Wien der Frage Wie (nicht) lesen? widmete: "Das üblicherweise einsame Geschäft des Lesens wird […] zum mehrfachen Dialog" (11), wo derlei diskutiert wird.

Diese Vielfalt wird anders als etwa bei Monographien oder Handbüchern—etwa Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, ediert von Ursula Rautenberg und Ute Schneider (Berlin/Boston 2015)—auch ausgestellt: Bei aller Verbindlichkeit sind viele Texte wunderbar subjektiv, wird immer auch auf das reflektiert, was Leserinnen und Leser zuweilen so, wie es sich bei Autorinnen und Autoren offenbar von selbst versteht, unverwechselbar [End Page 142] macht. Es gibt, wie in ihrem Text Irina Hron darlegt, als "Pendant" zur "Lust am Text," die Barthes beschrieb, "die Lust am Leser" (33). Bei ihr sind das dann sorgsam analysierte Bilder von Leserinnen und Lesern, von Marilyn Monroe, bei der Lektüre von Joyce porträtiert, bis zum Bild Interiør med ung læsende mand von Vilhelm Hammershøi aus dem Jahr 1898. Die "in sich selbst versunkene Allegorie des Verstehens" (40) deutet dabei schon die Grenzen dessen an, was zu leisten ist. Lesen muss sich nicht verraten.

Oft aber führt es zum Schreiben, so zeigt in poetologischen Überlegungen Marlene Streeruwitz. Unter anderem ist Lesen dabei das Erwecken der Optionalität: "Oder. Die Welt wird als ein einziges Zeichen aufgefasst" (45). Das ergibt übrigens einen aparten Widerspruch zur Sehnsucht nach dem Referenztext: "Kein Literaturkanon kann das neoliberal fragmentierte Subjekt zu sich selbst führen" (49). Allerdings wäre da einzuwenden, ob das nur für dieses Subjekt gilt—und ob es das gibt, wozu es so geführt werden solle, beziehungsweise, warum Literatur, kanonisch oder nicht, dieser Omphaloskopie dienen sollte. Und Streeruwitz betreffend: Ob. Punkte. Manier. Sind.

Der Kanon ist womöglich dagegen die Wendung gegen diese Auffassung, die Einzelstellen fetischisiert, seien sie auch kanonisch: "weg von der Einzelstelle, hin zur Kontextualisierung" (89), wie Christian Benne im Gespräch mit Hron meint. Diese Art von Heimkehr, aber bis in die Hoffnung hinein, die durch "Erinnerungsspuren" (93) formuliert wird, könnte die Lesebewegung schlechthin sein.

Im Anschluss werden die Texte genauer, kleinteiliger: close readings des Lesens. Beispielsweise wird Schreiben—und inszeniertes Schreiben—als Lesemodell beschrieben, u.a. mit Kittlers Lektüren von Goethe wie auch E.T.A. Hoffmann. Die beschriebene und gewiss instruktiv gemeinte Leseszene formuliert dies dann aus: samt dem "Stellenwert der fraglichen Kulturtechnik" (105), wie Nicolas Pethes schreibt. Das Lesen gibt es aber nicht, wie dann unter anderem der Beitrag Reinhard Möllers darlegt, der "kreativer Lektüre" in Form von Crossreadings, der "Serendipität des Querlesens" (135), gewidmet ist. Prominentes Beispiel ist dabei etwa Lichtenberg, auch wenn dieser eben jenes Lesen ambivalent beschreibt, wie Möller übersehen haben mag, nämlich...

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