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Reviewed by:
  • Schatten der Erkenntnis in Paul Celans Meridian und im Gedicht "Schwanengefahr" by Opak Chiara Caradonna
  • Christine Ivanovic
Chiara Caradonna, Opak. Schatten der Erkenntnis in Paul Celans Meridian und im Gedicht "Schwanengefahr". Göttingen: Wallstein Verlag, 2020. 455 S.

Die hier zu besprechende Studie beruht auf der Heidelberger Dissertation von Chiara Caradonna. Sie wurde im Rahmen eines Post-Doc-Fellowships der Martin-Buber-Society an der Hebräischen Universität in Jerusalem auf ein stattliches Format erweitert. Die 455 Seiten umfassende Arbeit bietet eine zusammenhängende Lektüre von Celans im November 1967 entstandenem Gedicht "Schwanengefahr," das im Kontext des Meridian, Celans 1960 gehaltener Büchnerpreisrede, detailliert erschlossen wird. Caradonna greift dafür in großem Umfang auf die im Nachlass Celans erhaltenen und im DLA in Marbach zugänglichen Bibliotheksbestände und handschriftlichen Dokumente zurück, auf Briefe, Vorstufen und unveröffentlichte Gedichte. [End Page 128] Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf Celans Notizen zur Büchnerpreisrede. Ohne eine solche umfangreiche rekonstruierende Kontextualisierung im Lektürehorizont des Autors erscheint heute ein seriöser Umgang mit dem Gedicht Celans kaum mehr denkbar. Vorbereitet wurde dieser Ansatz durch die Übernahme des Nachlasses durch das Marbacher Archiv zu Beginn der 90er Jahre und die damit verbundene Öffnung der Bestände für die Forschung, durch die Etablierung des Kommentars als angemessener Form der Erschließung der Gedichtbände wie einzelner Texte Celans, sowie durch zahlreiche kommentierte Editionen der Werke und Briefe (zuletzt eine große kommentierte Auswahlausgabe aus dem gesamten Briefwerk Celans, 2019 herausgegeben von Barbara Wiedemann). Caradonnas Studie entwickelt ihn mit großer Sorgfalt und umfassender Kenntnis weiter, wobei besonders ihre Souveränität im Umgang mit fast allen Sprachen Celans beeindruckt. So herausragend die Arbeit erscheint, ist ihre Vorgehensweise doch kein Einzelfall. Es gibt bereits vergleichbare jüngere Dissertationen zu Celan, die ähnlich extensive Lektüren einzelner Gedichte Celans vorgelegt haben. In seiner Tübinger Dissertation von 2011 untersucht beispielsweise Michael Herrmann die beiden Gedichte "Keine Sandkunst mehr" und "Das gedunkelte/Splitterecho" auf 400 Seiten (Einspruch! Akutes Gegenwort. Studien zur späten Dichtung Paul Celans, nur online erschienen 2016 (https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/68599/Diss_Herrmann_Einspruch_Celan.pdf). Auch er verfährt wie Caradonna rekontextualisierend auf der Basis der Marbacher Materialien. Notgedrungen führt eine solche, unter Umständen auch ausufernde Spurensuche zu informationsgesättigten, kaum mehr überschaubaren Darstellungen, deren Umfang den der besprochenen Texte um ein Vielfaches übersteigt, und die nur dann sinnvoll rezipierbar sind, wenn sie nicht selektiv, sondern tatsächlich von Anfang bis zum Ende wie eine Erzählung gelesen werden. Dass die Lektüre spannend ist, wird man keinesfalls abstreiten. Dass auch andere Kontextualisierungen denkbar wären, die letztlich über den (Lektüre) horizont des Autors hinausweisen, soll hier nur am Rande angemerkt sein. In der Dichte der herangezogenen Referenztexte und der Intensität ihrer Evaluation, in der Präzision der daraus erarbeiteten Analyse von Celans Poetik, vor allem aber in dem damit verbundenen erkenntnistheoretischen Anspruch geht Caradonnas Arbeit weit über die bisherige Praxis einer positivistisch-philologischen Kommentierung und Interpretation hinaus.

Wer das umfangreiche Buch zur Gänze gelesen hat, wird zweifellos [End Page 129] davon profitieren; zusammenfassen lässt es sich kaum. Es ist in zwei große Abschnitte unterteilt, denen jeweils der Gedichttext als ganzer vorangestellt ist. Zu Beginn greift Caradonna eine kurz nach der endgültigen Niederschrift des Gedichts notierte briefliche Mitteilung Celans an Franz Wurm auf, die sie ebenso genau, Wort für Wort, liest, wie den Gedichttext selbst. Nahezu notwendigerweise umschließt ihre Lektüre zunächst den Meridian als zentralen Ausdruck von Celans Poetik. Die ersten 300 Seiten ihrer Arbeit kreisen um die Büchnerpreisrede, ihre zentralen Kategorien und die Referenztexte, mit denen sich Celan darin auseinandersetzt. Caradonnas Studie bietet eine beeindruckende Aktualisierung der bisherigen (ohnehin schon umfangreichen) Forschung zum Meridian, die sie deutlich erweitert: einmal, indem sie viele der in den Notizen zur Rede genannten oder daraus erschließbaren Referenztexte in ihrer Relevanz für die Poetik Celans genauer untersucht (besonders bemerkenswert ihre Ausführungen zu Celans Šestov-Lektüren), einmal indem sie die für die Rede zentralen poetologischen Kategorien mit Blick auf die oben genannte Briefstelle an Wurm begrifflich noch erweitert (vor allem im...

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