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  • Linie und Leben:Eine Parenthese zu Hippels Lebensläufe nach Aufsteigender Linie
  • Christiane Frey (bio)

Wer an die Lebenslinie denkt, wird sie sich bevorzugt aufsteigend vorstellen. Auf der Suche nach passender Lektüre mögen sich Theodor Gottlieb von Hippels Lebensläufe nach Aufsteigender Linie, nebst Beylagen A, B, C aufdrängen, verspricht der Titel doch Einblicke in zielgerichtetes Arrivieren. Dieser eigenwillige Roman, von 1778 bis 1781 in drei Teilen bei Voß in Berlin erschienen,1 hält allerdings ganz und gar nicht, was er zu versprechen scheint, ja er liefert nachgerade das Gegenteil: Nicht nur wird von keiner fortschreitenden Karriere erzählt, sondern die „aufsteigende Linie" bezieht sich nicht einmal auf individuelle Biographien. Vielmehr soll es bei dieser Linie um die familiengeschichtliche Genealogie des Erzählers gehen, der sich indes in einen diffusen Plural auflöst; und die Genealogie soll zu allem Überfluss nicht ordentlich der Reihenfolge nach, sondern von vorne nach hinten erzählt werden. Aber nicht nur kommt der Roman von möglichen Söhnen auf den Vater,2 sondern und vor allem vom Hölzchen aufs Stöckchen. [End Page 687]

Angesichts der aufsteigenden Linie deutschsprachiger Imitationen von Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist dieses Erzählverfahren Hippels allerdings in keiner Weise denkwürdig. Vielmehr häufen sich in der deutschsprachigen Literatur der Zeit die oftmals eher hilflosen als gelungenen Versuche, Sterne'sche Erzählverfahren zu imitieren und zu variieren, sie in neue Umgebungen zu versetzen und das diegetische Experiment des so „launigen" wie „genialen" Briten, wie immer wieder betont, unter den Bedingungen eigener Möglichkeiten zu wiederholen.3 Es bedarf kaum des Hinweises, dass Hippels Lebensläufe nach Aufsteigender Linie in eben diese Sparte gehört und sich von den vielen zeitgenössischen Adaptationsversuchen allenfalls durch die gewählten Stoffe unterscheidet.4 Nichtsdestoweniger lohnt sich ein Blick auf Hippels Roman durchaus, wenn es um das geht, was sich als Poetik der Lebenslinie bezeichnen ließe.

I

Dass auch die Linie des Lebens zu jenen Einheiten gehört, die aus einer Vielzahl unterschiedlicher Begebenheiten und Erlebnissen eine Geschichte konstruiert, muss im Rahmen dieses Bandes mit dem Titel Life Lines nicht eigens hervorgehoben werden. In dem Versuch, den wirren Fäden des Lebens eine einheitliche Form abzugewinnen, „to project a unity out of the various and sundry impressions that run through it" (Tobias, „Rilke" 42), bewegen sich solche Narrative bekanntlich in den Bahnen sozial favorisierter Karrieren. Im 18. Jahrhundert finden sich solche Narrative in den Diskursen des sich emanzipierenden Bürgertums allerdings nicht nur profiliert und überhöht, sondern auch notorisch untergraben. Dem Akt der poiesis wird dann nicht nur das Erzeugen einer Einheit zugetraut, sondern auch das Ausstellen seiner Willkür. Dass es der Verstand ist, der sich im Umgang mit den unzähligen minutiae des Lebens Ordnungen und Einheiten bildet, ließ sich zu der Zeit—wenngleich natürlich unter anderem Vorzeichen—nicht zuletzt von der später so genannten Assoziationstheorie eines John Locke lernen. Diese Ordnungen beruhen, sofern von diesen frühen assoziationstheoretischen Annahmen ausgegangen wird, auf Tätigkeiten des Kombinierens, die sich aus [End Page 688] Ideenkomplexen generieren, welche in früheren Erfahrungen verankert sind, der „natürlichen Ordnung der Dinge" jedoch durchaus nicht entsprechen müssen (Lobsien 13). Die zahlreichen und vielgelesenen Romane des 18. Jahrhunderts, die nicht von geraden oder aufsteigenden Lebenslinien erzählen, sondern sich den Irrungen und Wirrungen des Lebens widmen, verschreiben sich nicht einfach dem Chaos. Vielmehr gehen sie von möglichen Konstruktionsgesetzen des Verstandes aus, während sie sich zugleich ostentativ dem Willen zur Einheit widersetzen: stattdessen wird der Versuch unternommen, den Wahrnehmungen und Ideen in ihrem Eigensinn zu folgen. So ergibt sich auch der Gang der Erzähldinge in Sternes Tristram Shandy nicht aus einer fingierten übergeordneten Einheit, sondern gibt vor, den kontingenten oder vielmehr kontiguen Assoziationen zu folgen, wie sie sich dem Verstand zu präsentieren scheinen, bevor sie in Reih und Glied gebracht werden. Wenn Hippel in seinem Lebensläufe nach Aufsteigender Linie dieses Prinzip aufgreift, so scheint es, als gehe es auch hier um eine solche Form des Assoziierens. Denn immerhin will auch Hippels Erzähler seinen Stoff so darbieten, wie...

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