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  • Des Rätsels Lösung
  • Eckart Förster (bio)

Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, mit der er 1785 seine Ethik der Autonomie begründete, beginnt gleich mit einem Rätsel, und zwar mit einem Rätsel, das bis heute nicht aufgelöst ist. Nach kurzen, einleitenden Bemerkungen zum guten Willen als dem einzigen unbedingt Guten sowie einigen Beispielen von Handlungen aus Pflicht schreibt Kant:

Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern blos von dem Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist. (4:399–400)1

Wenige Zeilen später heißt es dann:

Den dritten Satz als Folgerung aus beiden vorherigen würde ich so ausdrücken: Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.

(4:400)

Welches der erste Satz ist, hat Kant nicht gesagt. Damit hat er seinen Interpreten die Aufgabe hinterlassen, den ersten Satz zu identifizieren—genauer gesagt, im vorausgehenden Text den Satz zu finden, aus dem, zusammen mit dem „zweiten Satz", der dritte Satz sich „als Folgerung" ergibt. Die Kant-Forschung hat sich dieser Heraus-forderung [End Page 581] gestellt und besonders in den letzten Jahrzehnten eine umfangreiche Literatur zum Thema produziert. Trotz vielfältiger und zum Teil scharfsinniger Bemühungen ist dieses Unterfangen jedoch bisher ohne Erfolg geblieben. So konnte Bernd Ludwig noch 2018 schreiben: „Bis heute wurde aber keine Lösung angeboten, die den Anspruch erheben könnte, dem Text gerecht zu werden oder auch nur argumentativ transparent zu sein." (492) Es verwundert daher nicht, dass es zunehmend zum Konsens unter den Kant-Forschern wird, dass die „textlichen Indizien […] nicht ausreichend zu sein [scheinen], um verlässlich entscheiden zu können, welcher Inhalt denn mit dem ersten Satz gemeint ist" (Horn, Mieth und Scarano 187).

Trotzdem wäre es schön zu wissen, (a) was Kant sich bei seiner rätselhaften Ausdrucksweise gedacht haben könnte, und (b) warum die Versuche, einen ‚ersten Satz' in den Eröffnungspassagen der Grundlegung zu identifizieren, zum Scheitern verurteilt sind. Gibt es keine Lösung des Rätsels?

Ich beginne mit (a). Was kann Kant sich bei der Aussage, dass der dritte Satz eine „Folgerung aus beiden vorigen" sei, gedacht haben? Wenn ein Satz aus zwei anderen Sätzen folgt, so hatte er in der Kritik der reinen Vernunft und in der Logik ausgeführt2, dann handelt es sich um einen Vernunftschluss—und zwar handelt es sich um einen Syllogismus, denn die Aristotelische Logik galt zu Kants Zeiten noch unangefochten.3

Dass Kant auch in der Grundlegung an einen Syllogismus gedacht hat, wird nicht nur durch den Hinweis, dass der dritte Satz eine „Folgerung" aus zwei vorherigen Sätzen sei, nahegelegt, sondern vor allem dadurch, dass bei seinem „zweiten" und „dritten" Satz jeweils an der Subjektstelle derselbe Begriff steht, nämlich der Pflichtbegriff. Wir haben es also mit einem kategorischen Syllogismus der ersten Figur zu tun, die Kant auch als „die einzig gesetzmäßige" Figur unter den kategorischen Vernunftschlüssen bezeichnet hat.4 Mit anderen Worten, es handelt sich um einen Schluss der Form: [End Page 582]

Alle Menschen sind sterblichSokrates ist ein Mensch---------------------------------Sokrates ist sterblich

Im Obersatz wird eine allgemeine Regel ausgesagt, die im Untersatz spezifiziert ist („ein Erkenntnis unter die Bedingung der allgemeinen Regel subsumiert"), um daraus eine Erkenntnis über das so Spezifizierte abzuleiten („das Prädicat der Regel von der subsumirten Erkenntnis bejaht oder verneint", 9:120).

Allgemein ausgedrückt hat dieser Vernunftschluss die Form:

Alle A sind BC ist A------------------C ist B

Das hat aber auch zur Folge, dass in der Grundlegung im Obersatz (dem ‚ersten' Satz) der Begriff der Pflicht (C) nicht vorkommen kann.

Damit können wir die Versuche der Interpreten ad acta legen, die auch in Kants erstem Satz den Pflichtbegriff vermuten und folglich diesen Satz in den sechs ‚Pflicht'-Abschnitten, die dem „zweiten Satz" unmittelbar vorangehen, suchen.5

Demgegenüber können wir aber nicht nur sagen, was nicht in Kants Obersatz stehen kann, sondern...

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