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Reviewed by:
  • Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext ed. by Helmut Peitsch et al.
  • Liisa Steinby
Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext. Herausgegeben von Helmut Peitsch et al. Berlin/Boston: De Gruyter, 2019. x + 454 Seiten. €51,95 / $59.99 gebunden oder eBook.

Trotz seines Titels handelt es sich bei dem von Helmut Peitsch unter Mitwirkung von anderen herausgegebenen Band nicht um eine Geschichte der (deutschen) Nachkriegsliteratur. Das Wort ,,Nachkriegsliteratur“ bezieht sich hier nicht auf eine Periode in der Literaturgeschichte, sondern auf Literatur, die sich in den ersten Jahrzehnten nach 1945 mit der Kriegszeit beschäftigt. Und eigentlich behandelt der Band, wieder trotz des Titels, nicht nur Literatur, sondern auch Literaturkritik und literarische Zeitschriften, Buchausstellungen und -kataloge, Film und Musik, Geschichtsforschung und Philosophie – in beiden deutschen Staaten, aber auch in Polen, der Sowjetunion, Öster-reich und Italien, in geringerem Maße auch in Holland, Belgien, den USA und ,,im Exil“. Der Band behandelt somit, wie es in der Einleitung heißt, ,,Erinnerungsdiskurse[] in der Nachkriegszeit“ (1).

Die Einleitung und der erste Teil des Buches, betitelt ,,,Gedächtnis‘ und ,Generation‘“, bieten Erläuterungen zu den theoretischen Ausgangspunkten der Forschungsgruppe, deren Ergebnisse der Band präsentiert. Wie Frank Voigt erklärt, wollen die Mitglieder der Gruppe Abstand von den Begriffen ,,kulturelles Gedächtnis“ und ,,Generation“ nehmen, wie diese von Aleida und Jan Assmann richtunggebend geprägt wurden. ,,Kulturelles Gedächtnis“, definiert in Abhebung vom ,,kommunikativen Gedächtnis“, deute auf eine Einheitlichkeit der kollektiven Erinnerung hin, die die literarische, wissenschaftliche und feuilletonistische Öffentlichkeit als Ort von Auseinandersetzungen ausblendet. Als Rahmenbegriff wurde deswegen statt ,,kulturellem Gedächtnis“ ,,öffentliche Erinnerung“ gewählt. Der Begriff ,,Generation“ wiederum hat in der Theorie der Assmanns die Funktion, den zeitlichen Wandel im kulturellen Gedächtnis zu erklären. Wie Konstantin Baehrens in einem historischen Überblick zeigt, wurde der Begriff, ursprünglich von Karl Mannheim als ein theoretischer Begriff in der Soziologie eingeführt, schon mehrmals problematisiert und in seiner Mehrdimensionalität und in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Klassen und den geographischen und historischen Faktoren analysiert. ,,Generation“ soll also mit Vorsicht und mit genauem Blick auf die im jeweiligen Fall mitwirkenden Umstände verwendet werden. Wie in der Einleitung festgestellt wird, folgt die Mehrdimensionalität [End Page 321] der Begrifflichkeit in den Studien auch schon aus der variierenden Verwendung von Begriffen im Material selbst (9).

Die Kapitel über ,,Gedächtnis“ und ,,Generation“ enthalten keine Hinweise auf die nachfolgenden empirischen Kapitel, ebensowenig selbstverständlich der übersetzte Aufsatz von Maurice Halbwachs von 1939, dessen Funktion allein darin besteht, als Argument gegen die Assmanns zu dienen. Weil auch in den nachfolgenden sechzehn empirischen Studien auf diese theoretischen Diskussionen nicht mehr zurückgegriffen wird, sondern die Reflexion der Grundbegriffe ,,öffentliche Erinnerung“ und ,,Generation“ hier mit einer einzigen Ausnahme (96) gänzlich fehlt und auch die Termini selbst kaum auftauchen, bleibt der theoretische Teil vom empirischen in merkwürdiger Weise abgetrennt. Für die Lektüre des Buches bedeutet dies, dass sich der Anfangsteil viel zu lang anfühlt und dass es den Leser*innen überlassen bleibt, das Funktionieren der Begriffe ,,öffentliche Erinnerung“ und ,,Generation“ als implizierte Rahmenbegriffe der Studien zu reflektieren.

Die Analysen in den sechzehn empirischen Kapiteln ergänzen sich wechselseitig und bieten ein facettenreiches, wenn auch unvermeidlich fragmentarisches Bild des Gegenstands. Das Fragmentarische stört hier aber nicht, weil der gemeinsame Fokus – die Erfahrung des Krieges – zentripetal wirkt: Es geht um das Unterschiedliche im Gemeinsamen. Eine grobe Linie lässt sich wie folgt skizzieren: Alle der am öffentlichen Diskurs Beteiligten neigten zunächst – einige von ihnen langfristig – dazu, ihre Nation oder Bezugsgruppe als Teil des Widerstands und/oder Opfer der nationalsozialistischen Aggression zu stilisieren statt als Täter*innen oder Mitläufer*innen. Erst später, wenn überhaupt und vor allem unter den Deutschen, stellten sich die Fragen der Schuld in der eigenen Bezugsgruppe und der Notwendigkeit, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig oder bald danach kam es zu ernsthaften Bemühungen, die Entstehung des Faschismus wissenschaftlich zu erklä-ren.

Die sechzehn Teilstudien behandeln die folgenden Themen: Bibliographien und Buchausstellungen zum Dritten Reich 1947–1967 (Helmut Peitsch), die Verflechtung von Politik und Literatur in Walter Boehlichs Rezeption von Thomas Manns Doktor Faustus (Christoph...

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