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  • ,,Gesammlet und ans Licht gestellet“. Poesie, Theologie und Musik in Anthologien des frühen 18. Jahrhunderts ed. by Dirk Niefanger and Dirk Rose
  • Rolf J. Goebel
,,Gesammlet und ans Licht gestellet“. Poesie, Theologie und Musik in Anthologien des frühen 18. Jahrhunderts. Herausgegeben von Dirk Niefanger und Dirk Rose. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2019. 325 Seiten + 9 s/w Abbildungen. €39,80 broschiert.

Als Antwort auf die rapide Beschleunigung des Lebens und der mit ihr zusammenhängenden Gefahr kollektiven Vergessens im Zeitalter der technischen Medien und des Informationsüberflusses zeichnet sich gegenwärtig ein erneutes Interesse der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung an Aspekten des Sammelns, der Museumskultur und der kollektiven Erinnerung ab. Häufig ist dieser Ansatz intermedial ausgerichtet, denn die Bewahrung oder das Verdrängen von unterschiedlichen Vergangenheitsmomenten vollzieht sich stets in medientechnischen Netzwerken von Schrift/Oralität, Bild und Ton. Hier fügt sich der vorliegende Band mit Beiträgen zur Kultur der Anthologisierung im frühen 18. Jahrhundert gut ein. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung hervorheben, gewinnen die damaligen Anthologien zum Thema Poesie/Rhetorik, Theologie/Mythologie und Musikleben analog zu ,,Sharing“, ,,Open Access“ und Digitalisierung im Internet-Zeitalter aktuelle Bedeutung (7). Gerade die bibliophile Schönheit alter Anthologien, ihre materiell-haptische Präsenz, gilt es gegen die scheinbare Immaterialität der elektronischen Ressourcen im Informationszeitalter [End Page 300] zu betonen (8). Vormoderne Anthologien, so die Herausgeber weiter, ordnen ihr Textmaterial nach Regeln nicht immanenter Sinn-Bezüge; autorisieren ihre Texte normbildend; verorten künstlerische Tätigkeit in Regionen, Verlagsorten oder Landessprachen; gliedern Produkte in Kontexte thematischer oder wissensgeschichtlicher Schwerpunkte ein; fördern die Vermarktung und Distribution von Texten; und dienen allgemein der Bestandsaufnahme und Sicherung überlieferten Materials (9–10). In diesem Zusammenhang müssen ältere Anthologien freilich gegenüber einer wissenschaftlichen Bevorzugung von Produkten der späteren Genieästhetik ebenso rehabilitiert werden wie gegenüber der kulturpolitischen Skepsis hinsichtlich normierender Kanon-Bildungen (13–14). Umso wichtiger erscheint dies angesichts der Tatsache, dass um 1700 ,,ein wahrer Anthologien-Boom auf dem deutschsprachigen Buchmarkt zu verzeichnen“ ist (16), wobei Anthologien als wichtiges ,,Medium für die kulturelle (Selbst-) Repräsentation“ der damaligen Zeit dienen (20). Dies zeigt sich nicht zuletzt im ,,Einbezug musikalischer und theologischer Aspekte“ und äußert sich in der ,,zeitgenössisch[en] Kompositions- und Aufführungspraxis“, wodurch die Musik eine ,,Leitfunktion für den poetologischen Diskurs und die poetische Praxis um 1700“ gewinnt (20–21). Die Verbindung zwischen Wort, Musik und Heiliger Schrift ist besonders für den protestantischen Raum und den Kontext von Reformation und Pietismus bezeichnend, wodurch die entsprechenden Anthologien ,,zu einem noch immer zu wenig wahrgenommenen Kristallisationspunkt der Kulturgeschichte in der Frühen Neuzeit“ werden (22).

In einer Zeit des Übergangs, für die ,,ältere forschungs- und epochengeschichtliche Zäsursetzungen zwischen Barock und Aufklärung“ problematisiert werden müssen, wie Christian Meierhofer anmerkt (30), nehmen galante Lyrik, Kasualdichtung, Herrscherlob und panegyrische Texte breiten Raum ein. Angesichts des gegenwärtigen Interesses an der literarischen Repräsentation von Klang im Zuge der Sound Studies sei auf diejenigen Aufsätze ein wenig genauer eingegangen, in denen die Musik besonders berücksichtigt wird. Für die Zeit um 1700 schält sich ein Verständnis von Klang, Musik und Hörakten heraus, das sich beträchtlich von romantischmodernen Vorstellungen hinsichtlich der ästhetischen Autonomie, des metaphysischen Transzendenz-Bezugs und der rauschhaft-irrational überwältigenden Macht der Musik unterscheidet, auch wenn sich, wie mir scheint, bereits im ,,galanten“ Zeitalter der Affekt-Theorien einige Ansätze zu dieser späteren Ästhetik abzeichnen. Auch die physikalisch-materielle Untersuchung auditiver Prozesse im Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen, die man in den medien-orientierten Sound Studies findet, klingt schon in der früheren Zeit an.

So weist Tomasz Jabłecki darauf hin, dass der in diesem Band ausführlich behandelte Christian Friedrich Hunold (Menantes) wie auch Benjamin Neukirch auf dem fruchtbaren Zusammenwirken von Poesie, Rhetorik und Musik bestehen (116–17). Die verstärkte Rolle der Musik kann auf die ,,Steigerung des performativen Wertes des Gedichts“ und die für die Zeit besonders wichtige ,,Stärkung der Affekte“ zurückgeführt werden (118). Als sich die Dichtung aus der überkommenen Dominanz der männlichen Gelehrsamkeit und der Universitäten zu...

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