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  • Enzyklopädische Phantasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur – Fallstudien und Poetiken by Monika Schmitz-Emans
  • Thomas Scholz
Enzyklopädische Phantasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur – Fallstudien und Poetiken. Von Monika Schmitz-Emans. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2019. 753 Seiten. €118,00 gebunden, €98,00 eBook.

Bereits bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses wird ersichtlich, warum der Umfang der Monographie von gut 750 Seiten dem Projekt angemessen ist. Unter den titelgebenden ,,enzyklopädischen Phantasien“ fasst Monika Schmitz-Emans nicht etwa nur die überschaubare Gruppe literarisch-fiktionaler Lexika – wie beispielsweise Milorad Pavićs Das chasarische Wörterbuch –, sondern eine Vielzahl von Texten, welche das Spannungsfeld von Fiktionalität und enzyklopädischer Faktualität im weitesten Sinne erzählerisch produktiv machen. Als Gemeinsamkeit dieser Texte skizziert Schmitz-Emans die Kontingenz von Wissensordnungen, die in einer Arbitrarität der entsprechenden Wissenspoetiken mündet. Kurz gesagt: Durch die historischdiskursive Bedingtheit von Gegenstand und Form von Wissen eröffnen sich mannigfaltige Möglichkeiten, literarische Ästhetiken durch wissenspoetologische Fragen zu stimulieren.

Unter diesen Vorzeichen finden naturgemäß mehr Texte Eingang in die Betrachtungen, als der Titel anfangs vermuten lässt. Diese Heterogenität sowie der daraus resultierende Umfang des Projekts bilden sich im neunseitigen Inhaltsverzeichnis eindrucksvoll ab. So finden sich unter den ,,Kritisch-experimentellen Wörterbüchern“ Georges Batailles Dictionnaire Critique und Carl Einsteins ,,Brockenhaus“; im dazugehörigen Unterkapitel ,,Lexikographische Projekte der Surrealisten“ unter anderem André Bretons und Paul Éluards Dictionnaire abrégé du surréalisme sowie Alberto Savinios Nuova Enciclopedia. Jorge Luis Borges, Roland Barthes und Ror Wolf ist jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet, Ambrose Bierces The Devil’s Dictionary und Flauberts Dictionnaire des idées reçues werden ebenso behandelt wie die Lexikonromane von Andreas Okopenko, Milorad Pavić und Han Shaogong. Selbst für Walter Moers’ fiktives Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung, den enzyklopädischen Ansatz des Weltenbaus in Tolkiens The Lord of the Rings wie auch für Das kleine Lexikon der Provinzliteratur von Pedro Lenz findet sich Platz. [End Page 296]

Diese thematische Fülle wird unterteilt in drei Sektionen – ,,Poetiken“, ,,Formate des Wissens, Formate der Literatur“ sowie ,,101 Beispiele“. Schmitz-Emans bietet hier drei unterschiedlich strukturierte Zugänge zum Themenfeld, die sich ergänzen, aber teilweise auch überschneiden. Dass die Texte von Borges nicht nur unter ,,Poetiken“ ein eigenes Kapitel rechtfertigen, sondern auch in den ,,Formaten“ und ,,Beispielen“ zu finden sind, liegt auf der Hand, doch darüber hinaus offenbart sich hier der metapoetische Aspekt der Enzyklopädischen Phantasien. Darstellung von Wissen ist kontingent, das hält die Autorin bereits in der Einleitung nachdrücklich fest, und so erscheint es nur folgerichtig, dass auch die Wissensdarstellung in der Monographie selbst systemisch und formell variabel sein kann. Innerhalb der ,,Poetiken“ stehen Kapitel zu Verfasser*innen wie Barthes, Borges und Wolf gleichberechtigt neben solchen zu Textsorten wie ,,Erzählte Enzyklopädien“ und ,,Lexikographie als literarische Schreibweise“. Diese Diversität setzt sich in der unterschiedlichen Struktur der jeweiligen Unterkapitel fort, die dann wiederum durch typographisch hervorgehobene Lemmata unterteilt sind. Im zweiten Abschnitt, ,,Formate des Wissens, Formate der Literatur“, sind die zwölf Kapitel hingegen nur durch die hervorgehobenen Lemmata strukturiert. Die ,,101 Beispiele“ wiederum sind in Kapiteln nach textformellen Kriterien zu möglichst homogenen Gruppen arrangiert, jeder aufgelistete Titel ist wiederum ein eigenes Stichwort.

Die Gewichtung der einzelnen Abschnitte orientiert sich an einem traditionellen Verständnis des Gegenstands der Literaturwissenschaft. Borges’ Werk sind allein in den ,,Poetiken“ 22 Seiten gewidmet, dem populären Autor Moers innerhalb der ,,Formate“ immerhin ein Satz. Über die erzählerische Funktion der fiktiven Enzyklopädie in den Moers’schen Romanen hätte sich sicher mehr sagen lassen, doch der schiere Umfang der vorliegenden Arbeit macht es schwer, daraus ein ernsthaftes Manko zu konstruieren. Irgendwo müssen Grenzen sein, und die der Enzyklopädischen Phantasien sind nicht nur kontingent, sondern vor allem lesenswert gezogen.

Mit den diversen Materialien zumindest ansatzweise vertraut zu sein hilft bei dieser Lektüre jedoch ungemein. Der literaturtheoretische Kontrast, den die ,,Enzyklopädien spezifischer literarischer Text-Welten“ – wie die zu Tolkiens fiktivem Kontinent Middle-earth – mit Loriots Steinlaus – zu finden unter ,,Kuckuckskinder. Integration fingierter Wissensbestände in faktographische Kompendien“ – bilden, erschließt sich einer kundigen Leser...

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